Im WM-Finale 1974 hatte Johan Cruyff (zwischen Breitner (li.) und Vogts nicht seinen besten Tag. Foto: dpa

Nach dem Tod von Fußballstar Johan Cruyff werden auch in unserer Redaktion Erinnerungen wach: An viele unvergessene Fußballmomente genauso wie an eine Nacht vor dem WM-Finale 1974.

Stuttgart - Die Funktionäre des niederländischen Fußballverbandes schlummerten süß in ihren Betten. Ihre Elftal schickte sich an, zum ersten Mal in der Geschichte Fußball-Weltmeister zu werden. Soeben hat sie die Auswahl der DDR mit 2:0 besiegt, der Weg ins Finale ist geebnet, der Titel so nah. Also denken sie nichts Böses, als sie am 30. Juni 1974 im Hotel Krautkrämer in Hiltrup bei Münster einchecken.

Von Guido Frick, dem Spätzlevertreter aus Stuttgart, nehmen sie keine Notiz. In Wirklichkeit handelt es sich bei dem angeblichen Handelsvertreter auf Durchreise um einen Reporter unserer Zeitung. Der sich wundert, wie er so einfach an ein Zimmer im Teamhotel der Niederländer gelangt. Auch Frick hat nichts Böses im Sinn, außer den berühmten Fußballern aus dem Nachbarland zum Zwecke sportlicher Interviews möglichst nahe zu kommen.

Äußerst sportiv geht es dann auch in den Zimmern von Johan Cruyff und Kollegen zu – allerdings nicht im engeren Sinne. Bis auf den Flur dröhnt Musik der Bee Gees und immer wieder der Hit „One Way Wind“ von der niederländischen Gruppe The Cats. Es ist, wie Frick bald erfahren wird, das Lieblingslied von Cruyff. Der Spielmacher der Oranje avanciert auch an jenem Abend zum Taktgeber. Mit einem Glas Whisky in der einen Hand, einer rothaarigen Schönheit an der anderen, die so gar keine Ähnlichkeit mit seiner Frau Danny hat.

„Die Lebenslust schäumte über“

Der Spätzlevertreter ist auf einmal mittendrin im Geschehen. Und tut, was er in diesem Moment tun muss: Er feiert mit. „Die Lebenslust schäumte in einem Maße über, das alle bisherigen WM-Feten weit in den Schatten stellte“, sollte er später schreiben. Mit knackigen Groupies aus der Heimat wie aus dem Land des Gastgebers, jeder Menge Champagner und „Ringelpiez mit Anfassen“, wie es Frick vorsichtig umschrieb. Und immer wieder „One Way Wind“. Dass niemand Wind von dem bunten Treiben bekommt, hat mit dem diskreten Auftritt des Juniorchefs vom Krautkrämer zu tun, der seine Pappenheimer schützt und selbst kräftig mitfeiert. Die Sause endet erst, als es hell ist – stilecht im Hotelpool und mit den Protagonisten im Adamskostüm.

In diesem Moment kommt Frick, selbst ein großer Bewunderer des Fußball-Ästheten aus Amsterdam, seinem Idol so nahe wie nie. Er spricht mit dem 27-Jährigen über Fußball und bekommt nachdenkliche Töne zu hören. Die Rede ist von Knochenmühle und Dauerstress. Sein Herz bereite ihm Sorge, erzählt Cruyff, weshalb er überlege, in vier Jahren Schluss mit dem Fußball zu machen. Schließlich müsse er an seine Frau und die drei Kinder denken.

Am nächsten Morgen steckt der Reporter in der Zwickmühle. Was tun nach solch einer Nacht? Sein Vorgesetzter lässt ihm keine Wahl: „Sofort schreiben!“ Am 2. Juli erscheint die Geschichte in unserer Zeitung („Superstar Johan lud zur Nacktbade-Party“), einen Tag später führt die „Bild“ ein Interview mit dem Journalisten. Sämtliche Boulevardmedien aus den Niederlanden und Deutschland fahren auf die Geschichte ab, die schnell zum Politikum wird.

Und das wenige Tage vor dem WM-Finale!

Für den König folgt der Kater. Bondscoach Rinus Michels bestellt ihn zum Rapport, Ehefrau Danny reist aus den Niederlanden an und droht mit Scheidung. Zuvor hat Cruyff aber noch ein Hühnchen mit dem Spätzlemann zu rupfen. „Was hast du geschrieben?“ Frick: „Alles.“ Cruyff: „Bist du verrückt“? Bevor der Weltstar Frick an die Gurgel geht, schert ihn der Hotelchef mit den Worten „Falsches, dreckiges Schwein“ zum Teufel.

Das Los eines Reporters, der seine Geschichte nie bereut hat: „Ich war Journalist und musste darüber berichten“, sagt er.

Die Legende vom gekauften Reporter

Die Geschichte wird aber noch besser. Weil die Vorbereitung des Favoriten aufs Finale in den Tagen danach, nun ja, nicht optimal verläuft, vergeigt Oranje das Endspiel (1:2). So ist es zumindest bis heute Lesart in vielen holländischen Medien. Cruyff soll tage- und nächtelang mit seiner Danny Eheprobleme gewälzt haben. Nur so sei sein schwacher Auftritt im Endspiel zu erklären.

Arie Haan, ebenfalls Teil der Vizeweltmeistermannschaft von 74 und späterer VfB-Trainer, hält bis heute augenzwinkernd an der Legende fest, Frick sei vom Deutschen Fußball-Bund gekauft gewesen, um beim übermächtigen Gegner für Unruhe zu sorgen. „Wegen euch sind wir nicht Weltmeister geworden“, pflegte er in seiner Stuttgarter Zeit hin und wieder zu sagen; eine Zeit, in der Frotzeleien zwischen Deutschen und Holländern noch verbreiteter waren als heute.

Fricks Karriere als Sportjournalist ist längst passé. Der heute 69-Jährige arbeitete lange als Maler in den USA. In den Niederlanden hat er es nach seiner Enthüllungsgeschichte zu einiger Berühmtheit erlangt. Immer mal wieder war er im Fernsehen zu Gast. Die Fußballnation hat ihm längst verziehen, nicht so aber Johan Cruyff: Er weigerte sich stets, mit Frick zu sprechen.

Am Donnerstag ist Cruyff mit 68 Jahren seinem Lungenkrebsleiden erlegen. Die Nacht von Hiltrup wird zwischen den beiden für immer unausgesprochen bleiben.