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Der Stuttgarter Kunstvermittler Hans-Jürgen Müller ist am 27. Mai im Alter von 73 Jahren in Stuttgart gestorben.

Stuttgart - Einzeln hat er sich von Freunden und Bekannten verabschiedet - nicht ohne hier neue Aufträge zu erteilen, dort neue Ideen mitzugeben. Am Mittwoch ist der Stuttgarter Kunstvermittler Hans-Jürgen Müller im Alter von 73 Jahren in Stuttgart gestorben.

Ein letzter Besuch. Hans-Jürgen Müller organisiert. "Zwei Bücher müssen fertig werden", sagt er - und zeigt Entwürfe, Andrucke. Werbung hat er einst gelernt, und Werbung, das weiß er, braucht jenes Projekt, das in seit 1984 mehr beschäftigt als alles andere, noch viel: Mariposa. Von der vormaligen Idee eines neuen Atlantis, einer neuen Stadt der Künste, für die Leon Krier gar Entwürfe und Modelle lieferte, ist in der Realität eine Begegnungsstätte geblieben. Konzipiert und gebaut auf Müller-eigenem Grund auf Teneriffa. Doch Mariposa, der Schmetterling, ist nicht zu unterschätzen. Die Schönheit ist seine Botschaft, der direkte Dialog von Künstlern, Politikern, Managern und Philosophen ist seine Waffe. "Wenn nicht jetzt", sagt Müller, und nickt nebenbei Zeichnungen für einen Band ab, "der dann eben ohne mich rauskommen muss", "wann sollten die Menschen sonst erkennen, dass wir so nicht weitermachen können?". Und: "Was wollen wir sagen, wenn die Enkel fragen, warum wir die Welt zerstört haben und nichts dagegen getan haben?". Sagt's und schiebt ein Foto von einem Sarg hin. "Schön geworden, nicht?". Eine Treppe ist aufgemalt, viele werden sie erkennen als die Himmelstreppe auf dem Mariposa-Areal. "Passt doch", murrt Müller fast - und ist schon beim nächsten Punkt. Was für ein Unsinn das wieder sei, dass in Stuttgart die Ideen zurückgestellt sind, mit Kunst im öffentlichen Raum zu punkten. "Aber", schiebt er nach, "was sich mit Kunst bewegen lässt, haben man ja hier nie richtig verstanden".

Hans-Jürgen Müller weiß, dass Sprache deutlich sein muss, wenn Worte etwas bewirken sollen. Entsprechend deutlich ist er oft geworden, seit er am 28. September 1958 eine Tätigkeit startete, die zu jener Zeit noch eher selten war. Müller wird Galerist, und die Selbstbeschreibung ist ebenso Bekenntnis wie Anforderungsprofil: "Ich sage, der Künstler ist ein freier Unternehmer, der eine Ware schafft, die keiner will. Und dann braucht er jemand, der die Ware präsentiert und vermittelt - eben das macht die Galerie. Für wen sie dies tut, das ist ihr Bekenntnis."

Galerie Rauls heißt die Galerie zunächst, und keineswegs erscheinen die Positionen der Teilhaber von Beginn an so geradlinig wie in der späteren Rückschau. Über die von dem Kritiker Günther Wirth vermittelte Eröffnungsschau mit Werken von Max Ackermann sollte es bald hinausgehen. Nach Willi Baumeisters Tod große Stuttgarter Figur der Abstraktion, ist Ackermann gleichwohl ein Künstler einer anderen Zeit. Und so drängt Hans-Jürgen Müller auf Künstler der eigenen Generation. Er findet sie vor Ort. Absolventen der Stuttgarter Akademie wagen zeitgleich erste Schritte auf dem Kunstmarkt: Georg Karl Pfahler, Günther C. Kirchberger, Friedrich Sieber und Attila Biro hatten sich 1955 zur Gruppe 11 (benannt nach einer gemeinsamen Künstlerwerkstatt in der Dillmannstraße 11 in Stuttgart) zusammengefunden, und Pfahler und Kirchberger sind es denn auch, die 1958 die Chancen der Zusammenarbeit mit Hans-Jürgen Müller erkennen. Umgekehrt nutzt der 1936 im thüringischen Ilmenau geborene und 1952 nach Stuttgart gekommene Jung-Galerist, der bald auch Thomas Lenk zeigt, die weit über den deutschen Südwesten hinausreichenden Kontakte der Künstler. In London begeistern die jungen Stuttgarter Kollegen, aber auch die Kritik. Und nichts belegt die Programmatik der von 1959 an als Galerie Müller firmierenden Galerie besser als ein Foto, das Hans-Jürgen Müller als Mitstreiter seiner Künstlermannschaft zeigt. "Ihr müsst Banden bilden", ist Müller früh überzeugt - und lebt es vor.

Die Müller-Riege ist - mit Erich Hauser und Lothar Quinte sowie Lambert Maria Wintersberger - bald komplett, Hans-Jürgen Müller selbst aber ist bereits einen Schritt weiter. New York ist sein nächstes Ziel, die US-amerikanische Farbfeldmalerei begeistert ihn, und so sieht man in Stuttgart bald Ausstellungen von Morris Louis oder Al Held. Noch aber fehlte der Gegenwartskunst ein breiteres Verkaufsforum. Hans-Jürgen Müller sieht die Chance, mit einem Kunstmarkt ein breiteres Interesse zu wecken. Stuttgart scheidet für ein solches Projekt früh aus - in Köln eröffnet dann 1967 der erste "Kunstmarkt" und wird als "Art Cologne" mehr als drei Jahrzehnte erste Adresse der internationalen Gegenwartskunst sein.

Während in Stuttgart Margret Müller die Galerie weiterführt, etabliert sich Hans-Jürgen Müller fest in Köln - und gibt zudem wesentliche Impulse für wichtige Privatsammlungen. Den Mut, immer wieder Neues zu entdecken, weckt er unter anderen bei Kurt Fried in Ulm, bei Günther und Renate Hauff, bei Rolf Krauss sowie bei Ute und Rudolf Scharpff in Stuttgart. Auch Hans-Jürgen Müller, der 1975 das als Rückschau auf die mitunter buchstäblich tollen Tage der Avantgarde noch immer wunderbar zu lesende Buch "Kunst kommt nicht von können" veröffentlicht, wagt noch einmal vieles - 1979, die eigene Galerie ist bereits Geschichte, ist er in Stuttgart Mitinitiator der seinerzeit wie auch später vieldiskutierten Schau "Europa 79".

Im November 1984, Müller ist 48, fasst er gemeinsam mit seiner Frau Helga einen Plan, der tollkühn klingt und von vielen als endgültiger Ausstieg aus dem Bandentum der Avantgarde belächelt wird: "Ein Geschenk an die Menschen zum Jahr 2000". Drei Jahre später eröffnet er in Stuttgart den Ausstellungs- und Projektraum Artlantis. Die Denkerstadt ist das Ziel. "Was dann kam, war eigentlich nur Kampf", sagt Hans-Jürgen Müller zum Abschied. "Bis hin dazu, dass man uns bei der Documenta 1992 den Informationspavillon angezündet hat". "Aber eigentlich", sagt er, und lacht bitter, "sind da die Leute erst aufgewacht". Aus Atlantis wird Mariposa - und der Namenswechsel ist Programm: Kleine Schritte sollen nun zum großen Ziel führen. "Aber jetzt", sagt Müller", und ruft es fast schon hinterher, "brauchen wir wirklich Geld". Für Mariposa, für die Gegenwelt des Innehaltens und der Schönheit. "Ich erleb' das nicht mehr", sagt er noch - und "Was mich wirklich ärgert, ist, dass ich nicht mehr ins Mineralbad Berg kann".

Am Mittwoch ist Hans-Jürgen Müller gestorben. "Ich kann ja den Pfahler da oben nicht so allein lassen", sagt er wenige Tage zuvor. Und: "Wir werden da schon runterschauen, was Ihr da so macht mit der Kunst." Man möchte es ihm fast glauben.