„Zwischen zwei Leben“: Guido Westerwelle Foto: dpa

Mehr als 30 Jahre Politik, zehn Jahre FDP-Chef, vier Jahre Außenminister - Guido Westerwelle gehörte zu den prägenden Gestalten der deutschen Politik. Jetzt ist er mit nur 54 Jahren an den Folgen von Blutkrebs gestorben. Ein Nachruf.

Berlin/Köln - „Ich will unbedingt weiterleben.“ Guido Westerwelle hat das gesagt. Im November. Als er glaubte, den Blutkrebs besiegt zu haben. Als er meinte, dass er alles endlich überstanden haben könnte – die Chemotherapie, die schlimmen Wochen des Wartens auf einen Knochenmarkspender, die Monate im Kölner Uniklinikum.

Er hat diese Zeit im Spätherbst als Rückkehr ins Leben empfunden, als Aufbruch und Neubeginn. Den hatte er schon im September 2015 vorsichtig eingeleitet: Sein erster öffentlicher Auftritt. In den Räumen seiner Stiftung empfängt er junge ausländische Stipendiaten. Müde sieht er aus. Das Gesicht zeigt die Spuren früherer Kämpfe.

Manche, die ihn seit der Diagnose, die ihn Mitte Juni 2014 traf wie ein Blitz, zum ersten Mal wiedersehen, sind erschrocken. Aber Westerwelle strahlt Freude aus. Er fühlt sich als Sieger, als erschöpfter, aber zukunftsfroher Sieger. Viele kommen und wollen seine Hand schütteln. Das geht nicht. „Ich muss mich noch ein wenig schützen“, sagt er. Nur ein kleiner Satz. Einer, der Schwäche verrät. Aber das „noch“ drückt das Eigentliche aus. Es wird vorbeigehen. Er hat das fest geglaubt.

„Wir sind dankbar für eine unglaublich tolle gemeinsame Zeit“

So ist es nicht gekommen. „Zwischen den Leben“ nannte Westerwelle ein Buch, in dem er auf seine Leidenszeit zurückblickt. Ein Buch der Hoffnung. Rückblickend, aber voller Aussicht auf Genesung, auf neu geschenkte Zeit. Die Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Es kam der Rückschlag. Endgültig.

Guido Westerwelle, der ehemalige Außenminister, der frühere Vorsitzende der FDP, starb am Freitag in der Kölner Universitätsklinik im Alter von 54 Jahren. Auf der Homepage seiner Stiftung steht ein letzter Gruß – von Westerwelle und seinem Mann Michael Mronz. „Wir haben gekämpft. Wir hatten das Ziel vor Augen. Wir sind dankbar für eine unglaublich tolle gemeinsame Zeit. Die Liebe bleibt. Guido Westerwelle und Michael Mronz, Köln, den 18. März 2016.“

Westerwelles politisches Leben ist in der Geschichte der Bundesrepublik einzigartig. Weil er seine Partei, die FDP, auf einen Gipfel geführt hat. 14,6 Prozent erreichten die Liberalen bei den Bundestagswahlen 2009. Auch Westerwelle persönlich erreichte einen Gipfel – das Außenministeramt, in der Nachfolge der FDP-Legenden Walter Scheel und Hans-Dietrich Genscher. Dann kam der Absturz, so tief, so schnell, so gnadenlos. Vier Jahre später schied die FDP aus dem Bundestag aus. Nach 64 Jahren im Bundestag, 46 davon an der Regierung. Westerwelle hat das Aus gewiss nicht allein zu verantworten. 2011 hatte er den Parteivorsitz niedergelegt, und unter neuer Führung wurde alles noch schlimmer.

Er litt am Absturz seiner Partei

Obwohl Westerwelle als Außenminister, wenn auch nie unumstritten, insgesamt keine schlechte Figur machte. Und doch hat er gelitten am Absturz seiner Partei. Der politischen Niederlage folgte dann fast nahtlos die persönliche Katastrophe. Im Herbst 2013 wurde der Bundestag gewählt. Mitte Juni 2014 erhielt Westerwelle die Diagnose. Akute Leukämie. Dass der Krebs überhaupt entdeckt wurde, war reiner Zufall. Westerwelle wollte sich wegen einer Sportverletzung behandeln lassen. Blut wurde abgenommen. Dann begann nach dem politischen der ganz private Leidensweg.

Man soll sich zurückhalten in der Interpretation fremder Leben. Aber dann, wenn ein Lebensbogen endet, ist die Frage unvermeidlich, was denn die Klammer dieses Lebens gewesen ist. Die Klammer zwischen der politischen Arbeit und der Persönlichkeit. Wenn es sie überhaupt gibt. Es fällt ins Auge, dass das Ringen um Anerkennung ein Lebensthema Westerwelles war. Man muss das nicht überstrapazieren, aber offensichtlich vermischen sich da politische und private Motive.

Als Westerwelle seine Partei im Lauf des Jahres 2009 auf die Regierungsübernahme einschwor, hatte er mit der FDP schon viel erlebt. Nicht nur elf Jahre ohne Regierungsverantwortung, sondern auch Jahre als Generalsekretär in der Spätzeit Helmut Kohls. Eine Leidenszeit. Denn die FDP hatte nach ihrem Wechsel zur Union 1982 viel an intellektueller Strahlkraft verloren. Sicher, da war Hans-Dietrich Genscher. Aber eben auch die Bange- und Möllemänner. Und am Ende war da nur noch eins: das elende Funktionsargument. Wer Helmut Kohl will, muss FDP wählen. Darauf lief es in der Schlussphase des Ewigkanzlers hinaus.

Der Kampf um Eigenständigkeit und Anerkennung

Für einen ehrgeizigen und talentierten jungen Mann wie Westerwelle war das eine Erniedrigung. Nie wieder wolle er eine solche Demütigung – das hatte er seiner Partei als Vorsitzender von Anfang an gesagt. Bezeichnend, dass 2013 genau dieses Argument in der Merkel-Variante bei seinen Nachfolgern wieder niederschmetternde Urständ feierte. Nein, Westerwelle wollte die FDP als selbstbewusste eigenständige Kraft, als Repräsentantin einer Idee – der Idee des politischen Liberalismus, der gleichberechtigt neben den politikleitenden Idealen wie soziale Gerechtigkeit (SPD), Nachhaltigkeit (Grüne) oder Sicherheit (Union) stehen konnte. Der Kampf um Eigenständigkeit und Anerkennung – das ist der Kern alles Glücks und allen Übels für die FDP.

Vielleicht ist es auch ein Kern Westerwelles selbst. Er hat gelitten, wenn ihn die politische Klasse als Leichtgewicht ausgrenzte. Maß genommen hat er innerlich an Joschka Fischer. Er hätte das nie zugegeben. Aber als Fraktionschef in den Oppositionsjahren hat er sich an ihm abgearbeitet. Und er konnte auch gegenüber Journalisten im kleinen Kreis erbittert Klage führen, wenn der wuchtige Grüne ihn auf den Gängen des Bundestags mal wieder grußlos ignorierte.

Westerwelle konnte reden wie kaum ein zweiter deutscher Politiker. Er konnte zuspitzen, provozieren, schimpfen und komplizierte Sachverhalte zu handlichen Formeln verdichten. Er konnte berauschen. Tatsächlich hat er die FDP mit seinen Worten bezaubert, sie eigentlich nur durch Worte mit neuer Hoffnung geimpft. So lange, bis die Partei wieder an ihre eigenen Ideale glaubte. Dennoch umgab Westerwelle auch immer eine seltsame Unsicherheit, immer das sichtbare Bedürfnis, gemocht zu werden oder doch wenigstens respektiert. Er konnte im Auftreten überziehen, zu laut sein manchmal, zu forsch oft, und zu sehr erpicht darauf, aufzufallen. Nicht nur damals, als er zu einer Talkshow mit der Zielmarke 18 Prozent auf seinen Schuhsohlen erschien.

Er hat Politik interessant gemacht- durch Zuspitzung

Mancher Beobachter hat das mit Westerwelles Jugend begründet, damit, dass sich seine Eltern früh getrennt hatten und er ohne Mutter bei seinem Vater aufwuchs. Andere damit, dass er homosexuell war und öffentlich erst ziemlich spät dazu stand. Im Sommer 2004 machte er es publik, und er trat mit seinem Lebenspartner Michael Mronz auch öffentlich auf. Ein schwuler deutscher Außenminister. Natürlich markiert das einen gesellschaftspolitischen Einschnitt, einen Fortschritt in der inneren Liberalität unserer Gesellschaft, die mit Westerwelles Namen verbunden bleiben wird. Vielleicht aber mag hier tatsächlich eine Wurzel liegen für Westerwelles offenkundiges Bemühen um Anerkennung.

Ist es eine unangebrachte, weil zu bittere Frage, ob Westerwelle eine politische Lebensleistung hinterlässt? Zu böse, weil doch der Niedergang der FDP ein endgültiges Urteil vorwegzunehmen scheint? Vielleicht trügt hier der Schein doch. Nicht nur, weil das letzte Wort über die FDP nicht gesprochen ist. Vor allem, weil diese Sicht Westerwelle nicht gerecht wird.

Er hat manches erreicht, hinter das sich nicht mehr zurückgehen lässt. Die Liberalen als reine Funktionspartei – das wird es nicht mehr geben. Toleranz, gesellschaftliche Vielfalt, die Gleichberechtigung verschiedener Lebensmodelle, die Akzeptanz schwuler und lesbischer Partnerschaften – dafür hat Westerwelle sehr viel erreicht. In seiner politischen Rhetorik hat er eine Messlatte gesetzt. Und er hat Politik interessant gemacht, durch seine Zuspitzungen und Provokationen, aber auch durch seine Argumente. Das ist viel.

Seine politische Laufbahn endete nach einem grandiosen Höhepunkt schnell und grausam. Sein Leben nach der Politik auch. Man muss aus Stein sein, darin keine Tragik zu entdecken.