Das Vaihinger Urgestein Walter Mezger war 18 Jahre lang Bezirksvorsteher. Foto: Ott

Der frühere Bezirksvorsteher und Urgestein von Vaihingen, Walter Mezger, ist 90 Jahre alt geworden. Ein Porträt.

Vaihingen - Er erklärt sich am liebsten mit stapelweise Papier. Ganz, ganz viele Blätter sind in Ordnern abgeheftet, und vermutlich noch einmal so viele in Buchform gebunden. Sie verteilen sich kreuz und quer über den Tisch, und hin und wieder steht Walter Mezger auf, geht hinüber zum Schrank, zieht ein Bündel irgendwas aus dem Regal und legt es obenauf. „Ich bin ein Vaihinger“ steht als Überschrift auf einem der Deckel. Mezger schlägt es auf, beginnt, darin herumzublättern und nach einem Gedicht zu suchen. „Ich war immer hier“, sagt er. Nicht nur in Vaihingen, sondern auch in seinem Elternhaus, das inzwischen von den Mehrfamilienhäusern links und rechts überragt wird. Am 26. Oktober feierte er seinen 90. Geburtstag, im kleinen Kreis.

„Als wir im Krieg mit den Russen gestritten, bin ich als Kompanieführer an der Beresia geritten: dann wurde ich wie ein Wild verfolgt und gejagt, von Hunger und von Durst geplagt. Dabei bin ich durch den Pripjetsumpf gewatet und habe danach mit Ratten im Pitsch gebadet.“

„Mein ganzes Leben lang habe ich gereimt und geschrieben“, sagt Mezger. Das sagt er nicht nur so daher. Der Papierberg, der mit jedem Gang zum Schrank weiter in die Höhe wächst, ist sein Zeuge.

Walter Mezger, 1924 geboren, nicht im damals noch eigenständigen Vaihingen, sondern in einem Krankenhaus in Stuttgart, gehört zu diesem Ort wie das gebrochene Rad zum Wappen. 18 Jahre lang war er der Bezirksvorsteher von Vaihingen, mehr ein Bürgermeister eigentlich, ein guter zudem. So zumindest sagte es der Oberbürgermeister Manfred Rommel, nach dem jüngst der Stuttgarter Flughafen umbenannt wurde, zu Mezgers Pensionierung im Jahr 1984. Er habe immer nur seine Pflicht getan, antwortete der Geehrte darauf.

1952, nach der Verwaltungsausbildung, begann er im Vaihinger Rathaus. Nach zehn Jahren wurde er stellvertretender Chef des Hauses, 1967 der Bezirksvorsteher. 350 Sitzungen leitete er anschließend, rechnete damals Rommel vor. In seine Amtszeit fiel unter anderem der Bau der Waldburgschule und der Michael-Bauer-Schule, die Erschließung der Wohngebiete Lauchhau und Österfeld, der Ausbau des Vaihinger Uni-Campuses, für den sich Mezger stark gemacht hatte, sowie die Sanierung der Ortsmitte. Die Menschen hätten stets Vertrauen in ihn gehabt, sagte Rommel. In Reimform hört sich das aber etwas anders an. Zum Abschied verfasste Mezger folgende Zeilen:

„Es führte mich ein starker Wille stets in dieses schöne Haus. Mit Befriedigung, aber auch Enttäuschung kam ich oftmals dann heraus.“

Natürlich hat ihn die Zeit als Bezirksvorsteher geprägt. Aber ebenso das, was davor geschehen war. 1942 hatte er sich freiwillig für die Wehrmacht gemeldet. Die Romantik eines Jugendlichen wich rasch der Ernüchterung im Krieg. Das Gedicht zu Beginn schrieb er lange nach seiner Rückkehr. „Wissen Sie“, sagt Mezger, „der erste Krieg hat meinem Vater nicht gut getan, und der zweite hat mir nicht gut getan. Außer einer Niere verlor er fünf Jahre seines Lebens. In russischer Kriegsgefangenschaft wäre er beinahe gestorben. Die Tuberkulose ließ ihn Blut in den Schnee spucken.

Ein kleines Buch, so groß wie eine Streichholzschachtel, half ihm, durchzuhalten. „Mein Kriegstagebuch“, sagt Mezger. Den Einband hat er aus einem ledernen Reitbesatz eines Oberst angefertigt, das Papier für 80 Gramm Zucker, der Monatsration im Lager, von einem Russen gekauft. Die Bögen hat er mit einem platt geschlagenen Nagel geschnitten, alles mit Haferbrei geleimt und mit einem Faden genäht. Geschrieben hat er mit Roterübensaft, und zwar so eng, dass ihm bis zum Schluss der Platz nicht ausging. Entziffern kann er das heute nicht mehr. „Damals waren meine Augen noch besser“, sagt er.

800 Beiträge, schätzt er, dürfte er später wohl für das Vaihinger Schaufenster geschrieben haben. Dies und das von gestern und heute hieß seine Kolumne, in der er sich unter anderem der Ortsgeschichte widmete. Da passt es, dass er der Präsident des örtlichen Heimatrings war. Das Interesse an Vaihingen hat er seitdem nicht verloren. Erst vor Kurzem hat er wieder ein Gedicht verfasst, diesmal über den Eiermann-Campus.

„Wo einst der große Architekt Eiermann das Zepter führte und dann mehrere Jahre die IBM residierte, beim Autobahnkreuz auf den Vaihinger Höh’n, soll ein neuer Stadtteil von Stuttgart entstehen. Es bleibt zu hoffen, dass es gelingt und dem Stadtbezirk nur etwas Gutes bringt!“

Es ist still geworden in Mezgers Haus. „Wenn man so allein ist, ist der Tag ziemlich lang“, sagt er. Das Schreiben mag ihm nicht mehr so gefallen wie früher. Ob er überhaupt noch ein Gedicht verfassen wird, weiß er nicht. Seine Frau, die er vor 61 Jahren geheiratet hat und die ihm, wie er mehrmals sagt, „treu zur Seite gestanden ist“, lebt seit drei Jahren im Pflegeheim. Sie erinnert sich noch an ihn, da ist er sich sicher. Aber den Weg zu ihm findet sie nicht mehr. Sie leidet an Demenz.

„Doch ich kam heim aus fremdem Land zurück, und vor mir stand mein größtes Glück! Ein hübsches Mädchen jung und schön, die noch ein Kind war, als ich musste gehn. Noch wagt’ ich kaum, ins Auge ihr zu schauen, obwohl die Liebe mächtig wuchs in mir, der Stacheldraht hielt noch mein Selbstvertrauen, und ohne Hoffnung stand ich so vor ihr. Ihr junges Herz jedoch konnte es ermessen, in zarter Liebe tat’s sich auf für mich; nie werd die Stunde ich vergessen, als sie die Worte sprach: Ich liebe Dich!“