Noch immer gut im politischen Geschäft: Der Bundestagsabgeordnete der Linken, Gregor Gysi. Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Auch wenn er seine Bundestagsfraktion nicht mehr führt: Gregor Gysi ist noch immer Zugpferd der Linken. In unserer Redaktion erklärt er, welche Vorteile er in der Flüchtlingswelle sieht.

Stuttgart - Kürzlich hat er sich ein bisschen gestritten mit den Schwaben. Nicht, dass er etwas gegen sie hätte – in Berlin sind sie ja als geizig verschrien. „Aber da reizt es mich doppelt, mich von ihnen einladen zu lassen“, sagt Gregor Gysi und blickt knitz in die Runde. Nein, der Grund war, dass die Südwest-Linke einfach mehr Gysi haben wollte, als dieser zu geben bereit war.

Voller Terminkalender

Ein Auftritt zum Wahlkampfauftakt, einer zum Abschluss und noch ein weiterer, das sei ja in Ordnung, grummelt er und blickt hinüber zu Landesgeschäftsführer Bernhard Strasdeit, der ihn begleitet. Doch eine ganze Woche wie früher? Nein, das will sich der 68-Jährige nicht mehr zumuten.

Schließlich hat er im Oktober den Fraktionsvorsitz im Bundestag niedergelegt. An seinem Terminkalender hat das allerdings nichts geändert: „Weil alle denken, dass ich jetzt mehr Zeit habe, habe ich weniger Zeit als vorher.“ Deshalb hat er seine Mitarbeiter angewiesen, ihm wenigstens ab Sommer einen Tag in der Woche frei zu geben.

Gysi – noch immer auf allen Kanälen. Zu Griechenland, zur Ukraine, zum Rechtsruck in Europa. Und – wie auch anders? – natürlich auch zum deutschen Dauerthema. „Die Linke steht eindeutig zu Flüchtlingen“, stellt er klar, auch wenn Fraktionschefin Sahra Wagenknecht da einen anderen Zungenschlag hineingebracht hatte. Das mit dem „verwirkten Gastrecht“ für Straftäter habe sie sicher anders gemeint, glaubt Gysi.

Was will die Linken-Wählerschaft?

Eine Obergrenze hält er für Augenwischerei, denn was mache Deutschland denn, wenn zwar das Limit erreicht sei, dann aber doch noch ein politisch Verfolgter Einlass begehrt? „Schicken Sie den dann zurück?“ Nein, man müsse definieren, was „Menschen in Not“ seien, fordert er. Und dazu zähle auch, keine Bildungsperspektive zu haben.

Man müsse aber auch ernsthaft beginnen, Fluchtursachen zu bekämpfen. Deutschland sei immerhin der drittgrößte Waffenexporteur der Welt: „Können wir nicht mal andere Wege gehen?“ Von militärischen Aktionen hält er jedenfalls nichts. Afghanistan und der Irak hätten doch gezeigt, dass Konflikte so nicht lösbar seien. Den IS will er finanziell austrocknen. Kurzum: Gysi hat Deutschland die Rolle des Chefvermittlers zugedacht auf internationaler Bühne.

Kommt eine solche Position bei seiner Klientel wirklich an?, will die Redaktion wissen. Haben nicht gerade Linke-Wähler besonders Angst vor der Konkurrenz um Wohnungen und Sozialleistungen?

Ein Katalysator fürs Soziale

Es seien ja gar nicht die ganz Armen, die zu Pegida gingen, wendet er ein, sondern Kleinbürger – also jene, die etwas erreicht hätten, aber fürchten, es zu verlieren. „Rechtsextreme stellen auch soziale Forderungen“, stellt er nüchtern fest. Wenn sich die Linke also nicht in der Flüchtlingsfrage von der AfD unterscheide – worin dann?

Und dann streut Gysi eine seiner berühmten Anekdoten ein: Kürzlich habe er sich mit einer Freundin zum Abendessen getroffen, erzählt er. Die Stimmung sei prima gewesen – „bis sie sagte, dass sie den Orbán so gut findet, ich bin fast verrückt geworden“. Nein, Sympathien für den ungarischen Regierungschef und dessen rigide Flüchtlingspolitik sollte man beim Diner mit Gysi nicht äußern. Auch wenn die Geschichte zeigt, wie tief der Riss in der Gesellschaft klafft.

Das Positive an der Flüchtlingskrise sieht er darin, dass die Zwänge wie ein Katalysator wirken für die soziale Frage: Jetzt plötzlich stehe die Lehrerversorgung im öffentlichen Licht. Jetzt plötzlich werde über mangelnden Wohnraum diskutiert: „Die Bundesregierung behandelt jetzt Themen, die sie vorher ignoriert hat.“

Allerdings fordert er auch, dass Flüchtlinge respektieren, dass in Deutschland völlig andere Werte als in ihren Heimatländern herrschen – zum Beispiel, was Homosexualität angeht.

Sympathien für Merkel

Und Bundeskanzlerin Merkel? Bricht die Große Koalition in Berlin jetzt auseinander, weil CSU-Chef Horst Seehofer den Kurs nicht mehr länger mitträgt? Da hat Gysi seine eigene, ostdeutsch geprägte Sicht der Dinge („da bist du ja immer unter Generalverdacht“).

Die westdeutsche Führungsriege der CDU wolle ihre Vorsitzende schon lange weg haben, räsoniert er. Doch das habe Merkel ja irgendwie immer vereitelt, lacht er und kann seine Sympathie nicht verhehlen: „Jetzt aber glauben viele: Die Stunde ist gekommen.“ Er hält es jedenfalls für möglich, dass der Bundestag über eine „konstruierte Vertrauensfrage“ im Lauf des Jahres Neuwahlen erzwingt. Dann wäre eine Kanzlerin Merkel wohl Geschichte. Die CSU sehe sich jedenfalls getragen von der Stimmung in der Bevölkerung: „Das macht sie mutig.“

Das bringt ihn wieder zum Thema AfD, und er warnt, Wasser auf die Mühlen am rechten Rand zu leiten: Wer immer deren Themen übernehme, der locke die Wähler von sich weg – hin zur AfD.

Doch Gysi wirft Merkel auch kapitale Fehler vor – zuallererst in der Europapolitik. Zum einen habe sie es versäumt, den 2015 von Griechenland und Italien vorgeschlagenen Flüchtlingskontingenten zuzustimmen. Schließlich habe sie auch noch die Solidarität mit Griechenland aufgekündigt. Gysi: „Das hat die Solidarität in ganz Europa zerstört.“ Die Atmosphäre sei nun vergiftet. Seine große Furcht: Dass sich Europa „vollständig destabilisiert“.

Wohin steuert die Linke?

Er vermisst aber auch eine Gegenbewegung zum allgemeinen Rechtsruck in Europa: „Das Scheitern des Staatssozialismus hat alle Linken in den Keller gezogen.“ Womit die Runde beim Zustand der Partei in Baden-Württemberg angelangt ist. „Drei, vier, vielleicht fünf Prozent“, umreißt Landesgeschäftsführer Strasdeit die aktuellen Umfragewerte – nicht eben berauschend.

„Ich komm’ doch jetzt erst“, flüchtet Gysi sich in Witzelei. Der Südwesten sei politisch immer für eine Überraschung gut – siehe 2011. Das Wählerverhalten könne sich schnell mal ändern.

Und dann hat er noch eine Antwort parat auf eine Frage, die er gleich zu Beginn sozusagen auf den Bestellzettel geschrieben hat („Fragen Sie mich doch mal, was ich zu der Fernsehkiste sage!“). Nun also: Ist es richtig, dass die AfD von der SWR-Elefantenrunde ausgeschlossen wird? Ja, meint Gysi. Denn auch die Linke habe früher vergeblich darum gekämpft, teilnehmen zu dürfen – trotz guter Umfragewerte und trotz Einzugs in den Bundestag. Gysi: „Ich bin ein Anhänger von Spielregeln. Da wir nicht teilnehmen konnten, dürfen sie’s auch nicht.“