Im „Tatort“ klärt Rechtsmediziner Karl Friedrich Boerne (Jan Josef Liefers, re.) mit Hilfe von Kommissar Frank Thiel (Axel Prahl) jeden Mord auf. Seine Kollegen im wirklichen Leben bekommen dazu oft gar nicht die Gelegenheit. Foto: dpa

In Fernsehserien wie „CSI-Miami“ und „Tatort“ klären Rechtsmediziner jeden noch so komplizierten Mordfall auf. Die Realität sieht anders aus: Weil Tote nur selten untersucht werden, bleibt jeder zweite Mord unentdeckt.

Oldenburg - Es war der größte Mordprozess der deutschen Nachkriegsgeschichte: 90 Patienten spritzte der Krankenpfleger Niels H. in gerade einmal sechs Jahren in den Tod. Womöglich hat er sogar bis zu 200 Menschen auf dem Gewissen. Der 38-Jährige verabreichte seinen Opfern ein tödliches Herzmedikament, um sie wiederbeleben zu können. Ein selbst ernannter Held, der mit Leben spielte, statt sie zu retten. Lebenslang muss Niels H. dafür hinter Gitter, entschied das Landgericht Oldenburg im Februar 2015.

Dass er jahrelang unbemerkt morden konnte, scheint auf den ersten Blick ein tragischer Einzelfall zu sein. Immerhin werden in Deutschland 96,5 Prozent aller Morde aufgeklärt, so die polizeiliche Kriminalitätsstatistik. Doch während die Erfolgsquote bei entdeckten Verbrechen tatsächlich sehr hoch ist, legt eine Studie der Universität Münster nahe, dass in Deutschland jeder zweite Mord gar nicht erst als solcher erkannt wird.

Der Grund: Es wird kaum noch obduziert. Während in skandinavischen Ländern rund 30 Prozent aller Toten auf dem Tisch eines Rechtsmediziners landen, geschieht dies in Deutschland nur in den seltensten Fällen. Eine Obduktion ist nur dann verpflichtend, wenn ein Verdacht auf ein Verbrechen besteht. Oft werden wichtige Hinweise aber übersehen, weil der Totenschein auch von Medizinern ausgestellt werden darf, die keinerlei Erfahrung mit Verbrechen haben: Hausärzte, Augenärzte, Kinderärzte. Diese sind damit häufig überfordert. Die Folge: In Krankenhäusern und Altenheimen, wo der Tod zum Alltag gehört, haben Kriminelle theoretisch ein leichtes Spiel.

Einige Mord-Methoden lassen sich ohne Obduktion nicht feststellen

Der Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK) warnt: „Viele Verbrecher rutschen uns durch die Lappen.“ BDK-Präsident André Schulz spricht von einer „unrealistischen Aufklärungsquote“ und einer erheblichen Zahl an unentdeckten Verbrechen. „Bei Pflegepatienten wissen wir oft nicht so genau: War es wirklich ein Herzinfarkt, oder hat ein Pfleger mit einem Kissen nachgeholfen?“, sagt Schulz.

Im Fernsehen zeichnen Serien wie „CSI: Miami“ oder „Tatort“ ein glitzerndes Bild der Rechtsmedizin. Scharfsinnige Pathologen entdecken mit modernsten Mitteln jedes noch so absurde Delikt. Die Realität sieht weniger rosig aus. Weil Geld fehlt, mussten in den vergangenen Jahren mehrere rechtsmedizinische Institute in Deutschland schließen oder zusammengelegt werden.

Besonders bei Todesfällen von Obdachlosen, Drogenabhängigen oder alten Menschen liegt für Experten der Verdacht nahe, dass nicht so genau hingeschaut wird, weil es keinen gibt, der sich über mangelnde Gründlichkeit beschweren könnte. Zudem können Mediziner, die in der Kriminologie nicht geschult sind, Würge- oder Drosselmale leicht übersehen. Andere Mord-Methoden lassen sich ohne Obduktion gar nicht feststellen. Der Bremer Gerichtsmediziner Michael Birkholz kämpft daher seit langem für eine Reform der Leichenschau. Bis zu 40 Prozent aller Totenscheine seien „für die Tonne“, vermutet der Experte. Er fordert: Nur noch speziell ausgebildete Ärzte sollten sie ausstellen dürfen.

Auch in anderen Ländern wird weniger obduziert

Deutschland ist mit diesem Problem nicht allein. Weltweit gehen die Obduktionsraten seit Jahren zurück . Eine Studie der Londoner Imperial College School of Medicine brachte kürzlich ans Licht, dass in britischen Krankenhäusern nur noch 0,69 Prozent aller Verstorbenen obduziert werden.

Doch es gibt Ausnahmen: In Bremen etwa werden 80 Prozent aller Verstorbenen von einem Gerichtsmediziner untersucht. Kinder unter sechs Jahren, deren Todesursache unbekannt ist, müssen verpflichtend obduziert werden. Zudem hat die Rechtsmedizin bei jedem Toten das Recht zur Leichenschau. Bremen war das erste Bundesland, das den „vorläufigen Totenschein“ eingeführt hat. So kann der Arzt am Fundort den Tod eines Menschen bescheinigen, die spätere Leichenschau aber auf einen Experten übertragen. Jedes Jahr entdecken die Pathologen so über 50 unnatürliche Todesfälle, die sonst übersehen worden wären.

Außerdem schreitet die Technik voran. Ein neues Verfahren namens Virtopsy (virtuelle Autopsie) könnte das Skalpell bald ersetzen – oder zumindest ergänzen. Der Schweizer Rechtsmediziner Michael Thali forscht seit 20 Jahren an der Technik, die an der Uni Zürich inzwischen flächendeckend im Einsatz ist. „Bei uns wird jede Leiche in den Automaten geschoben“, sagt Thali und meint damit den Tomografen, der die Virtopsy durchführt. „Am Anfang schlug uns viel Ablehnung entgegen“, sagt Thali. Inzwischen habe sich das Blatt aber gewendet – die Zukunft liege in der digitalen Autopsie.