Der ehemalige Fischkutter wurde für die Seenotrettung umgerüstet. Foto: Sea-Eye

Dem Sterben im Mittelmeer wollte der Unternehmensberater Friedhold Ulonska nicht länger zusehen. Der Segler heuerte auf dem privaten Rettungsschiff Sea-Eye an, um Schiffbrüchige aufzuspüren.

Rottenburg - Der Anruf kam über das Satellitentelefon aus Rom. Etliche Menschen seien über Bord gegangen, vielleicht auch geworfen worden, so genau wisse das keiner, meldete die Seenotleitstelle. Ganz langsam, ganz deutlich wurde die Notlage auf Englisch geschildert. Missverständnisse darf es bei Anrufen, in denen es um Leben und Tod geht, nicht geben. Dann folgte die genaue Position vor der libyschen Küste. „Wir hatten eigentlich kaum eine Chance“, erinnert sich Friedhold Ulonska, der als Kapitän das private deutsche Rettungsschiff Sea-Eye steuerte, „und trotzdem haben wir den ganzen Morgen über gesucht.“ Gemeinsam mit dem ebenfalls privaten Seenotretter Sea-Watch bildeten sie eine Staffel, die Bahnen im Mittelmeer zog – mit mehreren Mann mit Ferngläsern auf dem Ausguck. Ulonska hatte auf der Brücke ständig das Radargerät im Blick in der Hoffnung auf ein Lebenszeichen. Sie hofften vergeblich an diesem Morgen, gegen Mittag gaben sie enttäuscht auf.

Im 16 Grad kalten Wasser seien die Chancen zu überleben gering, zumal die Menschen weder schwimmen könnten noch Rettungswesten hätten, sagt Ulonksa. Er ist wütend: auf die Schlepper, die Flüchtlinge in alles andere als hochseetaugliche Schlauchboote setzen und ihnen noch nicht einmal ein Funkgerät mitgeben; auf die Marinebesatzungen, die die Boote nicht aktiv suchen, sondern nur dann eingreifen, wenn es fast schon zu spät ist; und vor allem auf die Europäische Union, die die Balkanroute dichtgemacht hat und sich eine Politik der Abschottung leistet. „Man kann die Flüchtlinge nicht aufhalten“, sagt Ulonska. „Ich bin mir sicher, dass künftig wieder mehr versuchen werden, über das Mittelmeer nach Europa zu kommen.“

Der Erfahrenste an Bord

Seine Wut hat den Rottenburger Unternehmensberater und kundigen Segler aktiv werden lassen. „Wenn wir nur einen Menschen retten können, lohnt sich das“, sagt der gebürtige Ostfriese. Er hat per E-Mail bei der Hilfsorganisation Sea-Eye angeheuert. Als einer, der bereits mit 17 Jahren seinen Segelschein bestand, mittlerweile 25 000 Seemeilen absolviert hat und häufig auf Ausbildungsfahrten unterwegs war, musste er nicht lange auf eine Antwort warten. „Ehe ich mich versah, landete ich auf dem ersten offiziellen Törn“, erzählt Ulonska. „Ich war eben der Erfahrenste an Bord.“

Zu Hause am Wohnzimmertisch im Rottenburger Einfamilienhaus klappt Ulonska seinen Laptop auf, er klickt auf eine Seekarte. „Die lila Linien vor Libyen sind unsere Kurse“, erklärt der 59-jährige Familienvater, er ist braun gebrannt von der Mittelmeersonne, wirkt tiefenentspannt. In der Regel seien sie außerhalb der 24-Seemeilen-Grenze geblieben – aus Sicherheitsgründen. Denn wenn sie eines nicht wollten, dann Ärger mit den libyschen Behörden. „Wir hatten Geschichten gehört von Booten mit zwei Bewaffneten am Bug, die sagten, sie seien von der Küstenwache.“

Wo Regierungen versagen, springen inzwischen etliche private Initiativen in der zivilen Seenotrettung ein. Das machte der Brandenburger Kaufmann Harald Höppner vor, der einen alten Fischkutter gekauft und umgebaut hat, um auf seine zupackende Art Flüchtlingshilfe zu leisten. Das gelingt auch dem Regensburger Unternehmer Michael Buschheuer, der nicht zuschauen wollte, wie das Mittelmeer jedes Jahr erneut zum Massengrab wird, und die Initiative Sea-Eye gegründet hat. Von April bis November soll der Einsatz der Ehrenamtlichen dauern, nach jeweils vierzehn Tagen wird die Besatzung ausgetauscht. Buschheuer hat die Anschubfinanzierung übernommen. Doch ohne Spenden wird die Sea-Eye nicht regelmäßig auslaufen können. Von den 250 000 Euro Gesamtkosten fehlt noch gut die Hälfte.

Wenig Schlaf und heftiger Seegang

„Buschheuer ist einer, der nicht lange fackelt, ich habe ihn sehr zu schätzen gelernt“, schwärmt Kapitän Ulonska über den engagierten Unternehmer und Hobbysegler. Gemeinsam waren sie auf dem ersten Törn, gemeinsam haben sie bei heftigem Seegang und wenig Schlaf immer wieder Einsatzabläufe geübt und nach Flüchtlingsbooten Ausschau gehalten, um mögliche Retter zu alarmieren. Die Schiffbrüchigen an Bord des nur 24 Meter langen Kutters zu nehmen sei unmöglich, erklärt Ulonska, dazu sei die Sea-Eye viel zu klein. Meist sind es Marineschiffe, die Küstenwache oder Handelsfrachter, die die Flüchtlinge aufnehmen und an Land bringen.

Die winzigen grauen Schlauchboote zwischen den Schaumkronen zu sichten sei die eigentliche Herausforderung, erzählt Ulonska, denn auf dem Radar tauchten sie meist nicht auf. „Man kann auf 300 Meter an einem vorbeifahren und es locker übersehen.“ Die Billigware aus China bietet auf hoher See wenig Sicherheit und kann bei einer extremen Welle jederzeit kippen.

Ulonska zeigt auf seinem Rechner Fotos von einem Einsatz der Sea-Eye, bei dem 123 Menschen aus einem acht Meter langen Boot gerettet wurden. Eng an eng sitzen die Männer aus Zentralafrika auf den äußeren Gummiwülsten, im Inneren kauern sie erschöpft in Viererreihen auf dem Bretterboden. Auch eine hochschwangere Frau ist darunter, sie wurde wenig später auf der medizinischen Notfallstation der Sea-Eye versorgt. „Was diese Menschen mitmachen, ist unvorstellbar“, sagt Ulonska. „Das Elend, das sie dazu antreibt, muss immens sein, sonst würden sie so etwas wohl nicht auf sich nehmen.“

So viele Tote wie noch nie zuvor

Das Risiko, unterwegs zu sterben, ist groß. Auf der zentralen Mittelmeerroute zwischen Libyen und Italien sind im vergangenen Jahr 3771 Menschen ertrunken – so viele wie noch nie zuvor. Und auch für 2016 sind die Zahlen der Internationalen Organisation für Migration schockierend: 1357 Menschen haben bisher im Mittelmeer ihr Leben gelassen. Für Ulonska ist angesichts solcher Zahlen klar, dass er dabeibleiben muss. Seinen nächsten Törn zusammen mit vielen anderen Ehrenamtlichen hat er schon fest geplant: Im August, wenn er wieder ein paar Tage Urlaub nehmen kann, will er erneut in See stechen – dieses Mal auf der Sea-Watch.