Zen-Meister Hinnerk Polenski im Stuttgarter Zendo Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Immer mehr Menschen wollen bewusster leben. Sie kommen in dieser schnelllebigen Welt nicht mehr zurecht. Ein Aus-Weg bietet die Zen-Meditation. „Wenn ich mein Leben zurückerobern will, statt nur Zaungast, getrieben oder im Hamsterrad zu sein, bietet Zen Möglichkeiten“, sagt der Zen-Meister Hinnerk Polenski.

Stuttgart - Herr Polenski, das wird das kürzeste Interview aller Zeiten. Sie haben einen Satz, um sich und Zen zu erklären.
Einen Satz?
Okay, zwei.
Nö, ich schaff’ das auch in einem. Also: Ich gehe in den Wald, und niemand ist mehr da.
Was verbirgt sich hinter diesem Satz?
Der Weg zum Wesentlichen, unserem Wesen selbst. Dieses Wesen ist nicht begrenzt auf das, was wir sein sollen. Es geht über uns hinaus.
Konkret?
Wissen Sie noch, was Sie als Teenager fühlten, als Sie sich ersten Mal in ein Mädchen verliebt haben?
Ja.
Das ist es. Sie spürten, dass etwas über Sie hinausgeht. Eine andere Person, mit der Sie verbunden sind. Sie spüren, dass Sie nicht nur diese Person sind, die gefangen in ihrer Persönlichkeit ist. Sie spüren, dass das Wesen unabhängig ist.
So gesehen, darf sich kein Mensch mehr über einen Like auf Facebook freuen. Denn dieser Like bezieht sich nicht auf den Menschen, sondern auf das, was er darstellt.
Ich will das nicht negativ beurteilen, dass eine Person innerhalb eines Systems nach etwas strebt. Aber wenn es zwischen dieser Person und dem Wesen nicht synchron läuft, ergibt sich eine Disharmonie. Und das nennen wir Unglück.
Also Leid?
Nein. Wenn es Menschen schlechtgeht oder sie getrieben sind, dann hat das mit Leid nichts zu tun. Dieses Unglück hängt damit zusammen, dass unsere inneren Vorstellungen mit dem Äußeren nicht zusammenpassen.
Ein Beispiel bitte!
Stellen Sie sich vor, Sie wollen ein Bild aufhängen, haben aber keinen Hammer. Also fragen Sie Ihren Nachbarn nach einem Hammer. Aber auf dem Weg zu ihm beginnen Sie zu zweifeln: Was ist, wenn er mir den Hammer nicht leiht. Die Vorstellung davon wird schließlich so mächtig, dass Sie am Ende klingeln und sagen: Hey, du Arsch! Warum leihst du mir den Hammer nicht? Hier hat sich eine Eigenwelt gebildet, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat und Ursache von Leid ist.
Und der Zen-Meister hat dies alles im Griff?
Hier gibt es oft Missverständnisse. Ich bin auch nicht von allem losgelöst. Wenn mir ein Auto über den Fuß fährt, sage ich auch: Du Arsch!
Sondern?
Das Zauberwort heißt Angemessenheit. Es ist der Weg der Mitte. Das ist Zen. Viele spirituellen Ausrichtungen verlangen von den Menschen oft, dass sie allem entsagen: kein Sex, kein Geld, kein Alkohol. Sie gehen raus aus der Welt. Zen geht in die Welt rein. Zen ist ein anderes Wort für die Liebe zur Welt selber und nicht die Liebe zum Himmel. Die eigene Angemessenheit ist der Punkt.
Sie sind Abt eines Zen-Klosters. Leben Sie keusch?
Im Rahmen eines Exerzitiums kann ich mich dafür entscheiden, dass Enthaltsamkeit für mich der richtige Weg ist. Aber dann müssen die sexuellen Kräfte transformiert werden. Dieses Wissen ist im Westen verloren gegangen – mit den entsprechenden Problemen. Es gilt also auch hier die persönliche Angemessenheit. Ich liebe Frauen – und das ist eine gute Sache.
Was unterscheidet einen Zen-Lehrer vom Meister?
Nehmen wir das Beispiel Bergsteigen. Irgendwann kommt man als Bergsteiger an einen Punkt, an dem man die höchsten Gipfel erklimmen will. An diesem Punkt reicht es nicht, dass mir dabei jemand hilft, der technisch etwas draufhat. Nein, diesem Meister muss ich von Herzen vertrauen.
Und was kann so einen Zen-Meister aus der Ruhe bringen?
Alles Mögliche. Ich bin doch keine Schlaftablette.
Also was genau bringt Sie aus der Ruhe?
Begeisterung. Eine Frau, die mit mir flirtet. Ein richtig geiles Essen. Ein Arsch, der mich mit blöden Sprüchen anquatscht. Aber es gilt in allen diesen Situationen die Angemessenheit. Viele spirituellen Meister verleugnen ihre Emotionen. Aber alle unsere Emotionen sind Keime zu einer heilsamen Kraft. Und jeder Mensch hat eine Dimension dieser Gefühle, die zu stark ausgeprägt ist. Sei es nun Angst, Gier oder aber Hass. Es geht daher darum, die Welt in mir zu erkennen, auszuloten und aufs Wesentliche zu transformieren.
Sie lehren eine europäisierte Form des Zen. Ist das eine Light-Version?
Ich habe das japanische Zen für Europa übersetzt. Warum? Weil der männliche Aspekt zu stark ausgeprägt ist. Und weil eine überzogene Strenge herrscht. Aber das ist kein Zen light. Es ist und bleibt eine Herausforderung.
Was erwartet den Zen-Schüler, wenn er mit Meditieren beginnt?
Das Erste ist nicht, den Menschen den Weg zur Meditation zu zeigen, sondern die Sehnsucht nach Freiheit in die Herzen zu pflanzen. Menschen glauben, dass sie so sind, wie sie sind. Sie glauben, ihr Charakter sei unveränderlich und gottgewollt. Und daraus folgt das entsprechende Leiden in Beziehungen. Es geht mir darum, Menschen zu zeigen, dass sie sich ändern können. Ein Geheimnis aufzuzeigen: Wenn du dich änderst, ändert sich die Welt.
Ersetzt Zen eine Psychotherapie?
Nein. Wir verstehen uns eher als Brücke.
Können Christen den Weg des Zen gehen?
Ja. Weil die Gotteserfahrung durch die Exerzitien verloren gegangen ist, wenden sich sogar viele Christen dem Zen zu.
Warum ist es wichtig, in der Gemeinschaft zu meditieren?
Wenn Menschen zusammen sitzen, entsteht eine Kraft. Diese Kraft ermöglicht es, Hindernisse zu durchbrechen. Hinzu kommt die Arbeit mit dem Meister.
Immer mehr Menschen wollen bewusster leben. Sie kommen in und mit dieser schnelllebigen Welt nicht mehr zurecht. Spüren Sie das?
Ich sage mal so: Wenn wir nichts verändern, fliegt uns der Scheiß um die Ohren.
Manche suchen daher den Weg des Zen. Ist es der beste Weg?
Es ist dann ein guter Weg, wenn ich es ernst meine. Wenn ich in eine Stille und eine Kraft kommen will, in ein Ein- und Aufsteigen zu meiner Welt. Dann, wenn ich wieder mein Leben zurückerobern will, statt nur Zaungast, getrieben oder im Hamsterrad zu sein. Zen bietet Möglichkeiten der Selbstheilung und der Erfüllung.
Wir haben das Interview mit einem Satz begonnen. Lassen Sie es uns mit einem Satz beenden.
Das Leben ist ein Geschenk, und jeder hat das Recht, dieses Geschenk auszupacken.