Alle zwei Wochen ist Inge Emig auf dem Weilimdorfer Wochenmarkt und verkauft die Straßenzeitung. Foto: WEISE-FACTUM

Inge Emig verkauft seit Jahren regelmäßig auf dem Wochenmarkt die Straßenzeitung Trott-war. Mit dem Job wird die Rente aufgebessert -1,05 Euro pro Stück behalten die Verkäufer.

Weilimdorf - Dreckzeitung!“ Abfällige Bemerkungen wie diese hat sich Inge Emig auch schon angehören müssen. Die 73-Jährige verkauft regelmäßig auf dem Weilimdorfer Wochenmarkt die Straßenzeitung Trott-war. Das Blatt will sozial benachteiligten Menschen helfen. Die Verkäufer, also auch Inge Emig, behalten 1,05 Euro – die Hälfte des Verkaufspreises – für sich. Wenn es in Strömen regnet, steht sie nicht auf dem Markt. Sonst ist die Sudetendeutsche alle paar Wochen auf dem Löwen-Markt. „Ich habe nur Stammkunden. Laufkundschaft habe ich nicht“, erzählt Inge Emig.

Manche Marktgänger beachten sie nicht einmal. Sie selbst spricht die Menschen nicht an, sie will sich nicht aufdrängen. Über abfällige Bemerkungen hört sie hinweg. Denn „manche wissen gar nicht, was das für eine Zeitung ist“. Ihre Kunden seien eher älteren Semesters, erzählt sie. Nett seien sie alle, auch jene die letztlich nichts kaufen – von den wenigen Bemerkungen einmal abgesehen.

Eine Plattform für die Belange der sozial Benachteiligten“

Trott-war war die vierte deutsche Straßenzeitung überhaupt. Sie erschien erstmals 1994, vier Jahre nachdem die erste Straßenzeitung in London 1990 gedruckt worden war. Verkauft wird sie in den Stuttgarter Stadtbezirken ebenso wie in der Region und im Land. Herausgeber ist der gleichnamige Verein, den Journalisten und Privatpersonen ebenfalls 1994 gegründet haben. Von Beginn an im Mittelpunkt stand die Arbeit für und mit sozial Benachteiligten. Die Zeitung sollte den Betroffenen eine Plattform für ihre Belange bieten, ihnen gleichzeitig aber auch eine Verdienstmöglichkeit eröffnen.

Inge Emig ist in Rente und bessert diese mit der Straßenzeitung auf. Hundert Stück verkauft sie im Monat, dafür steht sie alle zwei Wochen in Gerlingen und zudem in Weilimdorf auf dem Wochenmarkt. Mit Gerlingen hat sie just jene Kommune gewählt, die in der Region über die höchste Einzelhandelskaufkraft pro Kopf verfügt – ein Hinweis darauf, dass die Gerlinger Bürger, wenn nicht zu den reichsten der Region, so zumindest zu denen gehören, die es sich leisten können, so viel wie in keiner anderen Stadt für den Konsum auszugeben.

Hundert Exemplare pro Monat sind Emigs selbst gestecktes Ziel. Aber wenn es schlecht läuft und sie in fünf Stunden nur 13 Stück verkauft, sei das schon „nicht ganz leicht“, meint sie. Der September ist grundsätzlich ein schlechter Monat. „Die Leute kommen aus dem Urlaub und müssen wieder sparen.“ Die Zuversicht, dass der nächste Monat wieder besser wird, ist freilich immer da.

„Ich war Mädchen für alles“

Über einen Mitbewohner ist sie einst zu Trott-war gekommen. Sie zögerte nicht lange, als sich die Möglichkeit bot, ihre Situation zu verbessern. Zu lamentieren ist ihre Sache nicht. 1953 war Emig aus der „Ostzone“ geflüchtet, einen Beruf hat sie nie erlernt. Im Schwarzwald war sie im Bäckerhandwerk tätig, arbeitete in einem Café, war Hausangestellte. „Ich war Mädchen für alles“, sagt die Mutter eines Sohnes schlicht. Ihre Ehe hielt nicht; und nach 26 Jahren und Streit mit dem Chef verlor sie ihre Arbeit. Sie bekam Arbeitslosengeld.

Weitere Stationen waren Düsseldorf und Stuttgart, in beiden Städten hat sie „Platte gemacht“. Anders formuliert: sie war obdachlos. „Angenehm ist es nicht“, sagt sie knapp. Es ist ihr nicht peinlich, es gehört zu ihrer Vita. Aber wichtig ist es ihr schon zu betonen, dass sie nicht offensichtlich so lebte: „Man hat mich nicht gesehen.“ Inzwischen ist sie sesshaft, lebt seit 1999 in Cannstatt, zusammen mit Hund und Katze. Sie fürchtet, dass ihr Stubentiger nicht mehr lange lebt, er ist krank. Förderer von Trott-war hatten ihr die Katze einst vermittelt, sie werden ihr auch jetzt wieder helfen, darauf kann sich Emig verlassen. Trott-war sei wie eine Familie, erzählt sie. Man kennt sich, ist informiert, wie es um die anderen steht. Die anderen, das sind Förderer und Verkäufer gleichermaßen.

Wenn sie nicht gerade im Gespräch ist mit den Stammkunden, nicht still auf das Marktgeschehen schaut, dann trinkt Inge Emig einen Schluck Kaffee – die Thermoskanne ist ihr an diesen Vormittagen ein steter Begleiter.