Viele Eltern wissen nicht, welche Themen ihr Kind wirklich interessiert. Foto: dpa-Zentralbild

Ob Fantasy- oder Fachliteratur: Der Nachwuchs sollte seine Lektüre frei wählen dürfen, sagt Christine Kranz von der Stiftung Lesen

Stuttgart – - Frau Kranz, wie viele Bücher lesen Sie im Jahr?
Etwa 800 Kinder- und Jugendbücher. Hobby und Beruf fallen bei mir zusammen. Mein aktuelles Lieblingsbuch ist von Eric Fan „Der Nachtgärtner“, ein wunderbar verträumtes Bilderbuch.
Mit so vielen gelesenen Büchern gehören Sie zur Minderheit: Laut Studien liest nur jeder fünfte Deutsche regelmäßig ein Buch. Bis zu 20 Prozent lesen keins. Stirbt die Leselust aus?
Das Interesse an gedruckten Texten ist nach wie vor da, die Gruppe der Vielleser ist seit Jahren praktisch konstant. Allerdings muss man etwas tun, um neue Leser zu gewinnen – auch für Print. Vor allem Jugendliche lesen heute viel digital, zum Beispiel auf dem Handy. Grundsätzlich ist es aber entscheidend, dass überhaupt gelesen wird.
Inwiefern profitieren Kinder von einer guten Lesefähigkeit?
Lesen zu können ermöglicht Chancengleichheit. Lesefähigkeit eröffnet den Zugang zu Bildung und Kultur und ist Schlüsselkompetenz und Grundlage für schulischen und beruflichen Erfolg. Je früher die Eltern den Grundstein für Freude am Lesen legen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit für einen nachhaltigen Erfolg.
Wie führt man Kinder ans Lesen heran?
Am besten fangen Eltern schon bei denAllerkleinsten mit spielerischer Leseförderung an. Ganz instinktiv singen Mütter ihren Kindern schon früh Lieder vor, sprechen Reime oder machen Fingerspiele. So prägt sich Kindern frühzeitig die Struktur von Sprache ein. Später spielt das Vorlesen eine wichtige Rolle, um Sprachkompetenz und Wortschatz zu fördern. Bei den Kleinsten ist das kein Vorlesen im klassischen Sinn, sondern eher das gemeinsame Entdecken von Bildern: Das Kind zeigt auf ein Bild, die Eltern nennen den Begriff und erzählen dazu. Lese- und Sprachförderung gehören eng zusammen. Durch das Vorlesen erleben Kinder Bücher und Lesen als etwas Schönes, Positives. Vorlesen stärkt die Bindungen in der Familie und fördert durch das Identifikationspotenzial der Geschichten auch das Sozialverhalten der Kinder.
Wie meinen Sie das?
Kinder, denen vorgelesen wird, sind selbstbewusster, offener und haben einen stärkeren Gerechtigkeitssinn. Geschichten enthalten immer auch Botschaften und bieten Kindern Vorbilder, deren Verhalten sie nachvollziehen können. Die Buchfiguren müssen Lösungen für Herausforderungen finden, die auch die Kinder aus ihrem Alltag kennen. Das große Thema in vielen Geschichten ist Freundschaft, bei der es immer auch um das Miteinander, um Helfen und auch um Empathie geht. Wird in einem Buch eine Figur gemobbt, fühlt das Kind mit ihr und empfindet dann eher Mitleid, wenn es eine ähnliche Situation in der Realität erlebt. Andere Geschichten können Kindern Mut machen. In Märchen etwa setzen die vermeintlich Schwachen sich am Ende durch, und die Bösen werden bestraft.
Viele Eltern klagen, dass sie keine Zeit zum Vorlesen haben.
Eltern müssen gar nicht stundenlang vorlesen. Wichtig ist vielmehr, regelmäßig vorzulesen. Da reicht schon ein kleines Vorleseritual von fünf bis zehn Minuten, zum Beispiel abends vor dem Schlafengehen. Eltern sollten ihren Kindern ruhig bis zum Ende des Grundschulalters vorlesen. Leseanfänger verstehen inhaltlich zwar schon viel, können selbst aber erst wenig lesen. Da hält Vorlesen die Motivation aufrecht.
Welche Rolle spielt die Zeitung?
Eine große. Ein Vorteil von Zeitungen und Zeitschriften ist der Themenmix. Jeder findet etwas, das ihn interessiert. Die Texte sind leicht zugänglich, da sie meist kürzer sind als Geschichten in Büchern und stark bebildert. Man fühlt sich informiert und kann mitreden, selbst wenn man nur die Zeilen unter einem Bild gelesen hat. Zeitungsleser wissen mehr – und werden neugierig gemacht, auch auf Hintergrundinformationen. Allerdings müssen die Inhalte zielgruppenorientiert aufbereitet sein.
In der Zeitung wird nicht gefiltert: Kinder lesen darin auch Berichte über Gewalt, Terror und Krieg. Wie sollten Eltern damit umgehen?
Filtern funktioniert nicht: Kinder können sich den allgegenwärtigen Horrormeldungen praktisch nicht entziehen. Sie lesen sie am Kiosk, im Internet oder sehen sie im Fernsehen. Es ist besser, Kinder zu stärken, indem man ihnen Dinge erklärt und über eventuelle Ängste spricht.
Dank Tablets und Smartphones gibt es heute viele Zugänge zum Vorlesen und Lesen. Wie verändern digitale Medien das Lesen?
Das Lesen wird schneller und mobiler. Wir lesen inzwischen praktisch überall. Und wir lesen häppchenweise. Studien zeigen, dass längere und komplexere Texte oft noch lieber in Print gelesen werden, während wir uns digital schnell informieren wollen.
Was sollten Eltern beachten, wenn ihre Kinder digital lesen?
Wichtig ist die Zuwendung, die Kinder beim Lesen bekommen. Eltern und Kinder können auch am Tablet gemeinsam lesen und entdecken. Kinder mit den digitalen Medien allein zu lassen kann bedenklich sein. Zum Beispiel, wenn jüngere Kinder unkontrolliert Zugang zum Internet haben oder zur Weitergabe persönlicher Daten aufgefordert werden.
Was raten Sie Eltern, wenn das Kind trotz Vorlesens keine Lust auf Lesen hat?
Eltern sind die ersten und wichtigsten Vorbilder – im Idealfall auch für Freude am Lesen. Die Freizeit der Kinder sollte nicht mit Aktivitäten vollgestopft sein. Auch Langeweile kann ein Grund sein, warum Kinder zum Buch greifen. Ein bewährter Trick ist das Reinlesen in Geschichten: Man liest bis zu einer spannenden Stelle und lässt das Kind dann allein weiterlesen. Sehr wichtig ist, dass man Kinder frei wählen lässt, was sie lesen. Viele Eltern wissen nicht, was ihr Kind wirklich interessiert, und gehen bei der Buchauswahl von ihrem eigenen Geschmack aus. Mütter müssen sich gegebenenfalls erst an den Gedanken gewöhnen, dass viele Jungs zum Beispiel „Star Wars“-Bücher,Rekorde-Bücher, Fach- oder Computerzeitschriften mögen. Das hat dann nicht unbedingt literarischen Gehalt, aber das ist auch nicht wichtig. Ziel sollte es sein, Kinder zu Lesern zu erziehen. Geschichtenleser können sie dann im zweiten Schritt immer noch werden.