Zügig arbeitet sich die Zeitungsbotin Henny Kies von vier bis fünf Uhr von einem Degerlocher Briefkasten zum anderen. Foto: Rebecca Beiter

Wenn jede Stunde eine Geschichte erzählt, hat der Tag 24 Geschichten. Eben diese erzählen wir in einer Serie. Von 4 bis 5 Uhr begleiten wir eine Zeitungsbotin bei ihrer nächtlichen Arbeit in Degerloch.

Degerloch - Auf ihren Händen liegt schon eine dünne Schicht Druckerschwärze, als sie die zweite Lieferung Zeitungen in ihren Wagen packt. Eine Stunde Zeitungen austragen hat die 41-jährige Henny Kies um 4 Uhr morgens bereits hinter sich. Rund 90 Zeitungen warten in den Briefkästen darauf, am Frühstückstisch gelesen zu werden. Für Henny Kies steht jetzt der Degerlocher Bezirk 4 rund um die Große Falterstraße an, weitere 90 Zeitungen muss sie in dieser Stunde austragen. Den Packen an Zeitungen, den ein nächtlicher Lieferfahrer ihr auf die Treppenstufen vor einem Elektronikgeschäft hingelegt hat, sind schon in ihrem Wägelchen verstaut.

Das Klappern des Briefkastenschlitzes durchdringt die Stille der Nacht unerhört laut, der Bezirk schläft noch. Die einzigen Geräusche kommen von den Rollen des Zeitungswagens, Kies’ Schritten und dem Papierknistern, wenn sie eine Zeitung in der Hand hält. Beinahe drückend ist die ungewohnte Stille in der sonst so hektischen Stadt. Zwei weitere Zeitungen steckt sie in die Briefkastenreihe, klapper, schepper, und weiter geht’s im Laufschritt, auf zur nächsten Straße.

„Ich genieße die Stille und die Ruhe“, sagt sie. Wenn Kies nach Hause kommt, stehen ihre beiden Kinder allmählich auf, der Alltagstrubel beginnt. Die zwei Stunden Zeitungsaustragen sind ihr Ruhepol. Deswegen hört sie auch nie Musik beim Austragen. Und sie will mögliche Autos hören, wenn sie die Straße überquert. Doch meist kann sie um diese Uhrzeit unbekümmert auf den Straßen der Degerlocher Wohngegend laufen.

In der Dunkelheit gut sichtbar

4.15 Uhr, Henny Kies ist gut in der Zeit. Die Lieferanten haben die Zeitungspacken pünktlich ausgelegt. Während der Fußball-EM musste sie oft auf die Papierstapel warten. Die Sportseiten gingen damals spät in den Druck, da die Ergebnisse der Spiele erst nachts feststanden. Dadurch verzögerte sich die ganze Lieferkette. Doch in dieser Nacht hat sie schon den ersten 20 Abonnenten ihre Zeitung zugestellt.

Henny Kies, eine Frau mit einem runden Gesicht und langen, schwarzen Haaren, ist mit ihrem neonfarbenen T-Shirt in der Dunkelheit gut sichtbar, wenn das orangene Licht der Straßenlaternen auf sie fällt. Abseits der Lichtkegel ist es dunkel, doch sie findet ihren Weg zu den Briefkästen auch im schummrigen Licht. Ein Briefkasten heißt bei ihr nur noch BK. Manche BKs sind versteckt, sie geht durch Tore, Vorgärten, Gassen und Hinterhöfe der Degerlocher Häuser, immer mit zügigem Schritt. An einer Stelle stolpert sie, hier ist es stockfinster, die umgebenden Häuser schlucken das Licht der Laternen.

Der enge Briefkastenschlitz hält sie auf, sie muss die Zeitung dann erst falten. Breite und große Briefkästen sind für ihre Arbeit am geschicktesten. Sie demonstriert das an einem weißen Briefkasten. Klappe auf, schwups, schon ist die Zeitung verschwunden, und weiter geht es im Laufschritt, zurück durch die Dunkelheit der Hinterhöfe.

Meditieren beim Zustellen

Seit rund einem Jahr läuft die Zeitungsbotin von montags bis samstags durch die Straßen ihres Wohnorts Degerloch. Sie steht gern früh auf, der Job macht ihr Spaß. Es ist eine meditative Arbeit, in der Stille und der Dunkelheit, nur die Straßenlaternen spenden spärlich Licht. Henny Kies ist ganz für sich allein. Eine halbe Stunde begegnet die gebürtige Indonesierin nichts und niemandem, weder Autos noch Menschen. 4.30 Uhr, die Hälfte ist geschafft, nun kreuzt eine Katze den Weg, scheinbar überrascht angesichts der nächtlichen Gesellschaft.

Die Zeitungsbotin manövriert den Zeitungswagen über den Bürgersteig. Zwei Räder hat der Trolley, zwei Taschen sind daran befestigt. Darin liegen die Stapel der Stuttgarter Zeitung und der Stuttgarter Nachrichten. Deren Abonnenten kennt die Nachtschwärmerin auswendig. Auf manchen Briefkästen kleben zwar bunte Punkte, je nach Abo, und eine Liste hat sie auch dabei. Doch diese Erinnerung braucht sie gar nicht, sie steuert die Häuser zielstrebig an. „Das ist mein Gehirntraining“, sagt Henny Kies. Aber: Sie freut sich immer über neue Abonnenten, dann kommt etwas Abwechslung in ihre nächtliche Routine.

Regen ist ihr Feind

Heute ist ein guter Morgen für Kies. Und heute ist es angenehm warm, 18 Grad, die Hitze des Vortags steht noch in den Straßen. Es regnet nicht, das ist gut, denn Regen ist der Feind der Austrägerin. Sobald es tröpfelt, muss sie jede Zeitung so in die Kästen stecken, dass kein Wasser auf die dünnen Seiten kommt. Das kostet Zeit. Für rund 90 Zeitungen braucht sie ohne Regen knapp eine Stunde, die Abonnenten wohnen verstreut. Bezahlt wird sie nach Stückzahl. Das ist der Grund für ihren Laufschritt. Schnell zu sein bringt ihr schließlich dasselbe Gehalt ein.

Auf dem Weg zu ihrem Wagen, der an einer Straßenecke steht, erzählt sie: „Manchmal stelle ich mir vor, wie die Leute die Zeitung morgens lesen, die ich austrage.“ Sie kennt zwar die Haustüren ihrer zwei Degerlocher Bezirke wie ihre Westentasche, doch die Menschen dahinter kennt sie nicht. Nur einem der 180 Abonnenten begegnet sie hin und wieder; er arbeitet als Fahrer und kommt oft erst um 5 Uhr morgens nach Hause. „Er lobte mich einmal, dass seine Zeitung immer da sei, wenn er nach seinem Arbeitstag noch lesen möchte“, sagt Kies, die auf ihre Pünktlichkeit selbst stolz ist.

Sie hat den Wagen gern im Blick

Die Schwärze der Nacht lichtet sich allmählich. Im Hellgrau des Himmels sieht man, dass der Zeitungswagen gar nicht blau ist, sondern dunkelgrün. Das Licht der Laternen verfälschte die Farbe ihres Gefährts. Jetzt ist der Wagen leichter zu bewegen, die Zeitungsstapel werden kleiner. Andere Boten ziehen den Wagen, doch „ich habe meine Ware gern im Blick“, erklärt sie und schiebt ihn vor sich her.

4.50 Uhr, alle Zeitungen sind ausgetragen. „Als Erstes mache ich mir meinen Kaffee“, sagt sie auf dem Heimweg. Zum Kaffee darf die Zeitung natürlich nicht fehlen. Sie liefert sich die Stuttgarter Nachrichten selbst aus. „Wobei ich die Titelseite nach dem Austragen bereits kenne“, sagt sie und lächelt. Vor dem Frühstück muss sie sich noch die Hände waschen, denn je heller der Himmel, desto schwärzer werden ihre Hände von der Druckerschwärze. Allmählich durchziehen gelbe Fäden das Hellgrau des Morgenhimmels. Die Glocke der Michaelskirche schlägt, Motorengeräusche und Vogelgezwitscher wehen durch die Stille. „Jetzt wird sie wach, die Stadt“, sagt Kies und klingt, als spräche sie über eine alte Freundin.

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