Sven Straubinger(links) und Benjamin Schaufler vor dem Nürtinger Rathaus, auf dem iPad zeigen sie eine alte Ansicht des Gebäudes. Foto: Leif Piechowski Foto:  

Vor 100 Jahren hatte der Nürtinger Bürgermeister noch einen Balkon vorm Amtszimmer. Dies zeigen historische Fotos, die sich Besucher auf ihre iPads oder iPhones herunterladen können. Die App gibt es für 15 Standorte in Nürtingen, Ende Februar ist es auch in Stuttgart so weit.

Nürtingen - Benjamin Schaufler und Sven Straubinger studieren an der Hochschule für Medien in Stuttgart und sind die Urheber der neuen App. Nach ihrer Kenntnis ist Nürtingen die erste Stadt bundesweit, die jetzt eine solche Zeitmaschine in Betrieb nimmt. Für Stuttgart und Berlin entwickelt das Duo gemeinsam mit Kommilitonen ähnliche Apps. Sie sind aber noch nicht verfügbar. Der Aufwand, vor allem für die Sicherung der Rechte an den alten Fotografien, ist in größeren Städten ungleich höher.

Schaufler und Straubinger sind mit ihren Zeitreise-Apps so erfolgreich, dass sie sogar eine eigene Firma, das Start-up-Unternehmen Zeitfenster, gegründet haben. Nachahmer wird es aber bald geben: „In Europa kann man die Software nicht wie in Amerika schützen lassen“, sagt Sven Straubinger.

Zeitreise-Apps gibt es bislang nur in Nürtingen

Vorerst allerdings hat Nürtingen die Zeitreise noch allein. Und tatsächlich: Als säße man in einer Zeitmaschine, wird man entführt in die Vergangenheit. Wer sich etwa an eine ganz bestimmte Stelle gegenüber dem Rathaus stellt, kann sich historische Fotos exakt über die heutige Ansicht legen. OB Otmar Heirich stellte dabei am Donnerstag überrascht fest, dass sein Amtszimmer auf einer vor genau 100 Jahren aufgenommenen Fotografie noch einen Balkon besaß. Ob er den beantragen wird? Und auch Arkadenbögen säumten einst das schmucke Gebäude.

„Wir haben jetzt ganz neue Möglichkeiten, die städtischen Sehenswürdigkeiten zu präsentieren und Neue Medien einzubeziehen“, freut sich Heirich. Die Stadtentwicklung lasse sich so auf Tablet oder iPhone hervorragend verfolgen. Eine Besonderheit werde Nürtingen auch dann noch haben, wenn andere Städte auf Zeitreise gehen: Die Erklärungen zu den Bildern spricht George Clooney. Zumindest hört sich das bei Martin Umbach so an, denn er ist die deutsche Stimme Clooneys.

Insgesamt 68 Fotografien von 15 Standorten zeigt die App

So scheint einem beim Bummel durch die Stadt tatsächlich noch der herbe Geruch auf dem Viehmarkt in die Nase zu steigen. Der Geist vergangener Zeiten wird spürbar, als noch Pferdekutschen durch die Kirchstraße fuhren. 68 Fotografien wurden für 15 Standorte hinterlegt. „Dabei hatten wir viel mehr Bilder“, sagt Clint Metzger, der für Nürtingen die Kontakte zu den Studenten knüpfte. Vor rund 100 Jahre sei es unter den Fotografen aber Mode gewesen, aus erhöhter Position, etwa von einer Leiter aus, zu fotografieren. Diese Bilder seien für die App nicht verwertbar, weil der Nutzer diese Perspektive nicht einnehmen könne.

Dass die neue App überhaupt verfügbar ist, sehen Besucher Nürtingens und demnächst auch der Landeshauptstadt am QR-Code (quadratischen Matrix aus schwarzen und weißen Punkten), der an allen Stationen angebracht ist. Nürtingen wird die Zeitmaschine jetzt außerdem auf der CMT bewerben. Im Laufe dieses Jahres soll noch die Android-Version der App auf den Markt kommen für die Besitzer von Tablets und Smartphones.

Der Vorteil dieser Stadtführungen ist, dass sie nicht gebucht werden müssen und terminunabhängig sind. „Unsere Stadtführer kann sie aber nicht ersetzen“, sagt Heirich. Denn nur sie könnten auch tiefere Einblicke in die Gebäude ermöglichen und spezielle Fragen beantworten.