Zwei Präsidenten Südafrikas: Nelson Mandela und Frederik Willem de Klerk de Klerk heben die Arme als Zeichen der Versöhnung Foto: ullstein bild

Was heißt es,  sich zu versöhnen? Wie kann es gelingen? Warum fällt es schwer? Wir haben die Schweizer Psychologie- Professorin­, Psychotherapeutin und Bestsellerautorin Verena Kast befragt.

Stuttgart – - Frau Kast, Sie werden gern als „die große Versöhnerin“ bezeichnet. Was ist Ihnen am Thema so wichtig? Geht es in der Welt nicht ohne?
Das ist wohl Geschmackssache. Es gibt sicher Menschen, die sich reiben wollen, die gern streiten, denen es gefällt, im Konflikt zu leben. Doch ich denke, die meisten wollen in Frieden mit sich und den anderen sein, sich nicht dauernd auseinandersetzen. Man ist dadurch einfach ruhiger und zufriedener.
Sollte man Konflikten also von vornherein aus dem Weg gehen?
Überhaupt nicht. Wenn Menschen zusammen leben, passiert es nun mal, dass man in Konflikt kommt, dass man streitet, dass man sich entzweit. Das ist doch ganz normal.
Hat Streit einen gewissen Sinn?
An eine Welt ohne Konflikte zu glauben wäre naiv. Wenn unsere Grenzen verletzt werden, wenn wir uns getäuscht, beleidigt oder verraten fühlen, kommt es zwangsläufig zum Konflikt. Diesen kann man vernünftig austragen, wenn man gleich in Ruhe miteinander spricht – und beide Seiten das Recht haben, gehört zu werden. Doch wenn man die Sache aussitzt, mit sich herumträgt oder weitere Verletzungen hinzukommen, werden die Probleme immer mehr. Da muss man sich überlegen, wie man sich wieder aufeinander zubewegt, wie man sich versöhnt.
Steht vor dem Versöhnen nicht das Verzeihen?
Versöhnen und Verzeihen sind zwei unterschiedliche Dinge. Für mich kommt ein dritter Punkt hinzu: das Gut-sein-Lassen. Das heißt, etwas stehen zu lassen, ohne nachzubohren, ohne etwas zu erwarten. Gut sein lassen wir etwas, wenn wir nicht erwarten können, dass der andere sich entschuldigt.
Was ist der Unterschied zwischen dem Verzeihen und dem Versöhnen?
Beim Verzeihen gibt man den Anspruch auf Rache und Genugtuung auf. Man nimmt dem anderen sein schuldhaftes Verhalten nicht mehr übel, spürt keinen Groll mehr. Hier kommt auch noch mal das Gut-sein-Lassen ins Spiel. Indem man sich sagt: So ist es jetzt, ich will mich nicht mein restliches Leben mit dieser Sache rumärgern.
Verzeihen kann also eine Einbahnstraße sein?
Es ist zunächst mal eine großherzige, eine liebevolle Gabe an den anderen und an sich selbst. Aber es kann tatsächlich auch nur in eine Richtung gehen. Man kann einem Menschen verzeihen, der niemals auf einen zukommen würde, der dieses Verzeihen niemals annehmen würde.
Und wie steht es ums Versöhnen?
Man kann sich zwar auch mit sich selbst versöhnen. In der Regel gehören aber zwei dazu. Und das Verzeihen geht der Versöhnung natürlich voraus. Bei einer Versöhnung reicht man sich gegenseitig die Hand, man umarmt sich. Das ist wie eine Brücke über den Abgrund. Man darf das schuldhafte Verhalten nicht immer wieder auf den Tisch bringen und aufrechnen. Man weiß auch, dass das Fehlverhalten erneut vorkommen kann. Und dennoch lässt man sich wieder auf den anderen ein. Man gibt sich bei der Versöhnung einen Vertrauensvorschuss.
Das kann manchmal sehr schwer sein.
Wer sagt denn, dass es leicht sein muss?
Ist Versöhnung harte Arbeit?
Da ich Psychologin bin, ist das Verzeihen und Versöhnen für mich keine moralische Forderung, sondern eine psychologische Fähigkeit, fast schon eine Kunst, die hohe Anforderungen an uns stellt. Es ist aber auch eine Gnade, wenn man sich versöhnen kann – und oft ein langwieriger Prozess sowie Arbeit. Denn ich muss mich dabei selbst unter die Lupe nehmen. Ich muss zur Einsicht kommen, dass auch ich was zum Konflikt beigetragen habe. Ich muss mir überlegen: Was habe ich falsch gemacht? Wo liegen meine Fehler? Zu so einer Selbsterkenntnis zu kommen ist nicht einfach. Da muss man sich Mühe geben. Aber es lohnt sich.
Was ist der erste Schritt?
Die Einsicht, dass nicht nur der andere Schuld trägt. Und dann muss ich um ein klärendes Gespräch bitten. Wenn einem eine Beziehung wichtig ist, erlaubt man so ein Gespräch auch. Dabei findet man im Idealfall heraus, was Ursache des Konflikt ist, welches Verhalten beide in die Verantwortung nehmen müssen. Günstig ist auch, wenn man sich entschuldigt. Nicht als Blankoscheck. Wir entschuldigen uns heute ständig für irgendwas – „Entschuldigung“ ist zur Floskel geworden. Ich meine damit, dass man anbietet: Ich will es künftig besser machen.
Was löst das Verzeihen und Versöhnen in uns aus? Was bringt es uns?
Eine Erleichterung, ja sogar eine Erlösung. Jeder wird sich an Situationen aus der Kindheit erinnern, wo man dachte: Das wird nie wieder gut. Wenn es sich dann doch wieder einrenkte, fiel einem ein Stein vom Herzen. Man wurde von einem unglaublich wohligen Gefühl durchströmt. Eigentlich geht es einem auch noch als Erwachsener so. Man fühlt sich beruhigt, einfach wieder gut.
Gibt es Menschen, die von Natur aus versöhnlicher gestimmt sind?
Ich glaube, Versöhnlichkeit hat viel mit Freundlichkeit zu tun. Wer anderen gegenüber freundlich gestimmt ist, kann auch leichter verzeihen.
Heutzutage wird einem Freundlichkeit oft als Schwäche ausgelegt.
Mag sein. Das wäre aber ein großer Fehler. Wer freundlich ist, ist nämlich viel positiver gestimmt, viel kreativer, unternehmungslustiger und stärker.
Muss ich immer verzeihen?
Es ist zwischendurch auch mal gut, wenn wir unversöhnlich sind. Es geht nicht darum, immer gleich zu verzeihen. Doch wer auf Unversöhnlichkeit beharrt, bleibt hängen. In der Vergangenheit. Unversöhnlichkeit bremst uns, macht uns unfrei und letztlich zu einem Opfer – nach dem Motto: Der andere hat mir Unrecht getan, ich bin ja so arm dran. Erst wenn man aus dieser Rolle rauskommt, kann man sein Leben wieder aktiv gestalten. Darum geht es letztlich beim Verzeihen und Versöhnen.
Können Sie nachvollziehen, dass jemand nicht verzeihen kann oder will?
Ich habe Hochachtung vor jemandem wie dem südafrikanischen Freiheitskämpfer Nelson Mandela, der trotz großen Leids die Fähigkeit zur Versöhnung behielt. Doch ich verstehe auch, dass man nach einem unvorstellbaren Unrecht oder gar einem Verbrechen dem Täter nicht verzeihen kann. Das muss man auch nicht tun. Aber man sollte sich selbst verzeihen und sich mit seinem Schicksal versöhnen.

Zur Person: Verena Kast

Am 24. Januar 1943 als Tochter eines Landwirts in Wolfhalden (Schweiz) geboren.

Zunächst wird sie Lehrerin, 1965 nimmt sie ein Studium der Psychologie, Philosophie und Literatur auf.

1970 Eröffnung einer psychotherapeutischen Praxis in St. Gallen.

Professorin für Psychologie an der Universität Zürich sowie Dozentin und Lehranalytikerin am dortigen C.-G.-Jung-Institut.

Kast veröffentlichte zahlreiche Publikationen zum Thema Emotion und Beziehung. Viele ihrer Bücher wurden Bestseller.