Der verheerende Tsunami forderte am 26. 12. 2004 230.000 Menschenleben Foto: dpa

Unter den vielen Tausend Menschen, die beim Tsunami am 26. Dezember 2004 ihr Leben verloren, befanden sich 33 aus der Region Stuttgart. Auch die Eltern von Marius und Kevin Böhm aus Gärtringen-Rohrau im Kreis Böblingen kamen in der Flutwelle ums Leben. In den StN spricht er das erste Mal über die Katastrophe.

Stuttgart/Gärtringen/Khao Lak/Phuket - Einhundert Tote, vermeldeten die Medien am 26. Dezember 2004. Keine sehr weihnachtliche Meldung, die Opferzahl, die der Tsunami laut thailändischen Regierungsbehörden gefordert haben soll. Aber auch kein Grund, im fast 8700 Kilometer entfernten Deutschland den Adventskranz trauervoll auszublasen.

Wenige Tage später im Dezember 2004: Jörg Braun sitzt in einer Boeing 747; der ärztliche Leiter der Deutschen Rettungsflugwacht (DRF) in Stuttgart, ist auf dem Weg nach Thailand. Mittlerweile haben die Medien aufgrund diverser Vermisstmeldungen von Touristen beim Auswärtigen Amt die Opferzahl auf einige Tausend nach oben korrigiert. „Aber das wahre Ausmaß der Katastrophe wurde mir erst bewusst, als ich mich im Landeanflug nach Phuket befand“, sagt der Notarzt. Die Region, in der etwa 340 000 Menschen lebten, war von der Flutwelle in den Küstenregionen komplett verwüstet worden. „Selbst der Flughafen zeigte Anzeichen von Überflutungen – überall waren Wasserlachen, Terminals teilweise zerstört.“ Ein paar tausend Tote? Das konnte Braun angesichts der Zerstörung nicht glauben. Spätere Hochrechnungen zeigten: Tatsächlich hat die Tsunami-Katastrophe von 2004 in Thailand und Indonesien 230 000 Menschenleben gefordert.

Darunter 108 Opfer und fünf Vermisste aus Baden-Württemberg, von denen 33 Menschen aus der Region Stuttgart kommen. Wie die Eltern von Marius und Kevin Böhm aus Rohrau, einem 1600-Seelen-Dorf, das zu Gärtringen gehört. Sie überlebten die Tsunamiwelle nicht, ihre Leichen wurden erst Monate nach dem Unglück identifiziert. Die Vollwaisen, damals zehn und zwölf Jahre alt, wuchsen bei der Oma auf.

„Die Unterstützung im Dorf hat mir sehr geholfen, mein Leben zu bewältigen“, sagt der heute 22-jährige Marius Böhm, der erstmals öffentlich über seine Erlebnisse spricht. In seiner Jugend hatten der Ortsvorsteher, der evangelische Pfarrer und der damalige Vorsitzende des örtlichen Fußballvereins ihn von der Presse abgeschirmt. Marius Böhm hat eine Ausbildung zum Industriekaufmann absolviert, jetzt studiert er Theologie und soziale Arbeit in Bad Liebenzell, sein kleiner Bruder Kevin verbringt ein Auslandsjahr in Australien. Was sie sich nicht hätte leisten können, wenn die Dorfgemeinde, der Sportverein, die Kirche nicht Spenden für die Buben gesammelt hätten – eine stattliche Summe kam zusammen. Das Konto existiert bist heute.

Ob die Anteilnahme der Dorfgemeinde die Wahl, ein soziales Fach zu studieren, beeinflusst hat? „Ich bin nicht sicher, ob das wirklich eine Rolle gespielt hat“, sagt Marius Böhm. Ihm ist wichtig, dass ihn der Verlust seiner Eltern zwar bis heute traurig stimmt, er das Thema aber verarbeitet hat, nicht depressiv ist deswegen. Aus Furcht vor Betroffenheitsjournalismus hat er sich bisher Interviews mit der Presse verweigert.

Unter der Zusicherung, seine Zitate nochmals prüfen zu dürfen, spricht der junge Mann dann aber sehr offen und tapfer über seine Erlebnisse am Strand von Khao Lak: „Zuerst kam es mir nur seltsam vor, dass das Wasser so schnell verschwunden ist – zu schnell für normale Ebbe und Flut. Zunächst sah die Tsunamiwelle gar nicht so bedrohlich aus. Aber als dann Fischerboote zerschellten, wurde mir die Gefahr bewusst. Panik brach aus, aber da war alles schon zu spät.“ Wie lange die Flut ihn mitriss, kann Marius Böhm heute nicht mehr sagen. „In der Flutwelle ist jeder alleine. Ich habe kaum jemanden um mich herum wahrgenommen. Ich wurde teils unter, teils über Wasser durch die Straßen gespült und musste herumfliegenden Wellblechdächern ausweichen“, sagt Böhm. Er fand sich auf einer Anhöhe wieder, wo sich ein Thailänder Böhm annahm und ihn auf einen Hügel brachte. Dort: das Wiedersehen mit seinem kleinen Bruder und der Familie, mit der die Familie Böhm gemeinsam in den Urlaub gefahren war.

Eigentlich wollte Jörg Braun Silvester 2004 in einer Berghütte in der Schweiz verbringen. Aber die Not, in die Menschen wie Marius und Kevin geraten waren, rief den Mediziner in die Pflicht. „Ich war damals der einzige festangestellte Arzt bei der DRF, der alle nötigen Impfungen hatte“, sagt er. 2004 gab es an Silvester in Phuket kein Feuerwerk. Braun hat gearbeitet, „abends irgendwann in der Hotellobby mit einem surreal wirkenden Weihnachtsbaum nach europäischem Vorbild ein Feierabendbier getrunken“, wie er sagt.

Humanitäre Katastrophen von einem Ausmaß wie durch die Tsunamiwelle 2004 können wieder eintreten, glaubt Braun, der in Bundeswehrzeiten beim Erdbeben in Afghanistan oder der zweiten Intifada in Palästina auf humanitären Einsätzen war und Experte für Strukturfragen in der Notfallmedizin ist: „Ein Riesenproblem in Thailand war, dass jede Nation einen eigenen Krisenstab hatte. Es wäre viel effektiver gewesen, die Organisation der Hilfskräfte zusammenzulegen.“ Was bis heute nicht geschehen sei. Die Europäische Union und die internationale Völkergemeinschaft hätten die Gelegenheit, aus dem Tsunami zu lernen, nicht genutzt. „Wir haben damals nicht sehr viel bewegt. Im Gegensatz zu den Thailändern, die sich um die Akutversorgung der ausländischen Patienten besser gekümmert haben als um ihre eigenen Landsleute. Das hat mir tiefen Respekt abverlangt“, sagt Braun.

Ob vor zehn Jahren ein Alleingang in der Tradition von Helmut Schmidt während der Flutkatastrophe 1962 geholfen hätte, als sich der damalige Innensenator in Hamburg über sämtliche Behördenwege hinwegsetzte und persönlich zum Hörer griff, um Hilfe aus dem Ausland zu erbitten? „Das wird bei einer Tsunami-Katastrophe wie der in Thailand und Indonesien nicht reichen“, sagt Braun. Einer reichen Nation wie Deutschland, sagt er, würde es gut anstehen, die strukturellen Probleme im Katastrophenfall zum Jahreswechsel aus der Schublade zu holen, um für künftige Katastrophen gewappnet zu sein.