Eine Stunde lang durften vier YouTuber Bundeskanzlerin Angela Merkel im YouTube-Studio in Berlin interviewen. Foto: dpa

Vier YouTuber haben heute Mittag Angela Merkel interviewt. Übertragen wurden die Gespräche per Livestream. Lesen Sie hier, wie ein erfahrener Politikjournalist das Interview wahrgenommen hat.

Berlin - Vier YouTuber, eine Bundeskanzlerin – im Studio „YouTube-Space“ in Berlin stellten Mittwochmittag vier junge Filmemacher Bundeskanzlerin Angela Merkel Fragen, die ihnen und ihrer Fan-Gemeinde auf der Seele brannten. Übertragen wurde das einstündige Interview per Livestream auf dem YouTube-Kanal „Deine Wahl“. Die Zuschauer konnten im Vorhinhein und auch während des Streams unter dem Hashtag #DeineWahl weitere Fragen stellen und Kommentare abgeben.

Erstwähler vs. Politikjournalist

Wie hat die junge Zielgruppe das Interview wahrgenommen? Und welchen Eindruck hat das Format auf einen erfahrenen Politik-Redakteur gemacht?

Klicken Sie hier für den Eindruck einer 20-jährigen Erstwählerin.

Und hier der Eindruck des Journalisten Christopher Ziedler, der das Berliner Büro der Stuttgarter Zeitung leitet:

Welche Themen wurden behandelt?

Von der Frage nach Merkels Lieblings-Emoji abgesehen, die von ihr mit einem Lächeln beantwortet wurde, lässt sich nach den vier Zehn-Minuten-Interviews nicht behaupten, dass sich die Themen der jungen YouTuber sonst gar nicht in den bundespolitischen Debatten wiederfinden würden. Von der sozialen Ungerechtigkeit über den Dieselskandal und die Flüchtlingspolitik ging es einmal quer durch den politischen Gemüsegarten bis hin zum außenpolitischen Brandherd Nordkorea, bei dem die Kanzlerin die angesprochene Angst vor einem dritten Weltkrieg zu zerstreuen versuchte. Interessant war, dass die erste Fragestellerin mit dem Künstlernamen „ItsColeslaw“ nach Rücksprache mit ihren Netzfans die uneinheitlichen Bildungssysteme der Bundesländer als große Ungerechtigkeit ansprach. Merkel blieb nur, darauf hinzuweisen, dass die Kultusministerkonferenz für die Hauptfächer schon vergleichbare Standards erarbeitet hat, aber mehr getan werden müsse. Dass die Fragestellerin in Bayern möglicherweise ein besonders striktes und unflexibles Abitur machen „musste“, ließ die Kanzlerin gar nicht erst als Vorwurf gelten: „Seien Sie doch froh.“

Wie kritisch waren die Fragen der YouTuber?

Echtes Nachhaken ließ der knappe Zeitraum kaum zu. Weshalb Mirko Drotschmann alias „MrWissen2go“ im Anschluss auch bedauerte seine möglichen „tausend Nachfragen“ nicht untergebracht zu haben, speziell zur Flüchtlingspolitik. Alexander Böhm alias „AlexiBexi“, der fast ausschließlich nach der Automobilindustrie fragte, insistierte immerhin auf eine Antwort darauf, ob Angela Merkel ihr schon vor langer Zeit ausgegebene Ziel von einer Million Elektro-Autos auf den Straßen nicht längst aufgegeben habe. Er war es auch, der wissen wollte, was Merkel nun genau vorhat. Im Ergebnis lernte der Zuschauer, dass Merkel bei der Messung von Schadstoffgrenzwerten auch unangekündigte Stichproben-Tests befürwortet und die besonders unter dem Feinstaub leidenden Städte wie Stuttgart bei der Einrichtung einer Ladesäulen-Infrastruktur für E-Autos unterstützen will.

Hat die YouTuberin „Isipisi5“ nach Schminktipps gefragt? Wie hat die YouTuberin agiert?

Entwaffnend ehrlich berichtete Ischtar Isik davon, dass ihr als Schönheitsratgeberin nicht zugetraut werde, mit der Kanzlerin zu sprechen. Merkel nannte das „blöd“, weil es ja auch impliziere, dass beispielsweise eine Friseurin keine politische Meinung haben dürfe. Punkt für die Kanzlerin, aber auch für die Interviewerin.

War es ein seriöses Interview oder eine nette Plauderei?

Die Gesprächsthemen waren fast alle ernster Natur, weshalb auch der Charakter der vier Kurz-Interviews ernsthaft war. Ein wirklich spannender Austausch wurde es aber nicht. Gerade Ischtar Isik, die einen Videoblog mit Schönheitstipps betreibt und am Mittwoch vor allem die bedeutsame Frage zur Kluft zwischen jungen Menschen und der Parteiendemokratie stellte, vergab eine große Chance. Als die Kanzlerin ihr anbot, zu bestimmten Themen die genauen Unterschiede zwischen CDU und den anderen Parteien zu benennen und damit dem Vorwurf des „Ist-ja-eh-alles-dasselbe“ zu begegnen, wollte die Fragestellerin lieber ihrer vorbereiteten Fragenkatalog abarbeiten.

Waren Merkels Antworten verständlich?

Die Bundeskanzlerin bemühte sich zwar sichtlich um eine klare verständliche Sprache, gelungen ist ihr das aber nicht immer. Dass etwa die „Vorbeitrittshilfen“ für die Türkei wegen der verschlechterten Beziehungen auf ein Minimum zurückgefahren worden sind, hätte sicherlich der Erklärung bedurft, dass die EU schon ihre Beitrittskandidaten finanziell unterstützt. Selbst Politprofis dürften sich mit dem Begriff „demarchieren“ schwer getan haben, den Merkel in Zusammenhang mit der Koreakrise benutzte – dass es sich dabei um das diplomatische Austauschen auf Botschaftsebene handelt, dürfte die YouTube-Zielgruppe erst recht nicht wissen.

Wie cool war Merkel?

Wem für ein T-Shirt kein Spruch, sondern nur eine Welle einfällt, die den eigenen Wahlkreis Rügen symbolisieren soll, kann zumindest darauf hoffen, dass er so uncool ist, dass es fast schon wieder als cool gilt. Wirklich cool jedoch war Merkels Reaktion auf das Bekenntnis von Ischtar Isik, gerade ihr erstes Interview geführt zu haben. „Sonst machen Sie nur Selbstdarstellung?“ fragte die Kanzlerin – und offenbarte damit ein ziemlich gutes Verständnis der YouTube-Szene. Uneitel ist die Bundeskanzlerin auf jeden Fall, beharrte sie gleich zu Beginn des Gesprächs doch keinesfalls darauf mit ihrer Amtsbezeichnung angesprochen zu werden: „Frau Merkel ist in Ordnung.“

Was war der Aufreger der Sendung?

Einen wirklichen Aufreger gab es nicht. Politisch am interessantesten war möglicherweise Merkels Antwort darauf, warum sie Ende Juni im Bundestag gegen die Ehe für alle, also die rechtliche Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften, gestimmt hat. Merkel verteidigte ihr Nein mit Blick auf die Möglichkeit zur Adoption von Kindern, sagte aber auch, die habe sich dafür „eingesetzt, dass diese Abstimmung“ stattfindet. Bisher hatte sie stets behauptet, von der SPD überrumpelt worden zu sein und ein Votum eigentlich erst in der nächsten Legislaturperiode gewünscht zu haben.

Weiß man nach dem Interview, wofür Merkel und die CDU stehen?

Vieles in Deutschland läuft gut, in einigen Bereichen aber gibt es „die Pflicht, weiter zu arbeiten“ – das ist Merkels Kernbotschaft. Das bleibt meistens vage, wirklich konkret wurde es auch im Gespräch mit den YouTubern nicht. Zum Themenkreis Bildung erfuhren die Zuschauer immerhin, dass die Partei der Kanzlerin ein Recht auf eine Nachmittagsbetreuung im Grundschulalter einführen will – was dazu führen soll, dass der Schulerfolg weniger vom Engagement der Eltern abhängt, indem zum Beispiel dann allen bei den Hausaufgaben betreut werden.

Kann Merkel mit diesem Format die Generation YouTube gewinnen?

Bis zu 55.000 Nutzer waren am Mittwoch zeitweise live zugeschaltet – die vier Fragesteller mit ihren zusammen knapp drei Millionen Abonnenten werden das Gespräch weiter im Netz verteilen. Die gesamte Generation YouTube wird sich damit sicherlich nicht gewinnen, Teil derselben im Wahlkampf für ihre Person zu interessieren, dürfte der Kanzlerin allerdings erst einmal genügen.