Die YouTuberin „Nihan“ war eine von vier Internetstars, die sich an Martin Schulz abarbeiten durften. Foto: dpa

Vier YouTuber interviewen Martin Schulz. Übertragen wurde die Veranstaltung per Livestream. Lesen Sie hier, wie ein Politikjournalist das Interview wahrgenommen hat.

Berlin - Die Volksparteien sind auf der Suche nach der verlorenen Jugend. Und weil viele der jungen Menschen nun mal nicht mehr zur Tatortzeit vor dem Fernseher ein TV-Duell verfolgen wollen, sondern stattdessen im Internet die Videos ihrer YouTube-Ikonen streamen, gehen auch die Spitzenpolitiker von Union und SPD neue Wege. Vor knapp drei Wochen war Bundeskanzlerin Angela Merkel dran, diesmal war es ihr SPD-Herausforderer Martin Schulz, der sich den Fragen von vier prominenten YouTubern im Studio „YouTube-Space“ mitten in Berlin stellen musste. Übertragen wurden die vier Interviews, die insgesamt eine Stunde dauerten, per Livestram auf dem YouTube-Kanal „Deine Wahl“. Via Twitter konnten während des Interviews Fragen eingereicht und Kommentare abgegeben werden.

Erstwähler vs. Politikjournalist

Wie hat die junge Zielgruppe das Interview aufgenommen? Und welchen Eindruck hat das Format auf einen erfahrenen Politik-Redakteur gemacht?

Lesen Sie hier, wie eine Erstwählerin das Interview wahrgenommen hat.

Und hier der Eindruck des Journalisten Thomas Maron, der im Berliner Büro der SPD und damit auch Martin Schulz als Korrespondent stets auf den Fersen ist:

Welche Themen wurden behandelt?

Die Youtuber erwiesen sich als ausgesprochen lernfähig. Jedenfalls wurden sowohl aus den Fehlern des ersten Formats dieser Art als auch aus dem Debakel bei der Themenauswahl beim angeblich so professionell vorbereiteten TV-Duell der Fernsehsender ARD, ZDF, RTL und Sat1 die richtigen Schlüsse gezogen. Die Wahl der Themen war knapp drei Wochen vor der Bundestagswahl deutlich vielfältiger, abgearbeitet wurden vor allem die für junge Menschen besonders interessanten Zukunftsbereiche Bildung, Gerechtigkeit, Digitalisierung. Auch der Komplex Zuwanderung, Integration, Ausländerfeindlichkeit spielte eine große Rolle, ebenso der Tierschutz. Kaum ausgeleuchtet wurden die Themen Wirtschaft, Arbeitsmarkt und Innere Sicherheit. Auch die Außenpolitik und Europa wurden thematisch eher klein gehalten, von Fragen zum Umgang mit Diktatoren und unliebsamen internationalen Partner mal abgesehen. Martin Schulz nutzte aber ein ums andere Mal die sich bietenden Gelegenheiten, darauf hinzuweisen, dass sich viele Probleme nur international und europäisch lösen lassen.

Wie kritisch waren die Fragen der YouTuber?

Dass nicht allzu oft nachgehakt wurde, war wohl vor allem der knappen Zeit und der Absicht der YouTuber geschuldet, möglichst viele unterschiedliche Fragen unterzubringen. So hätte die Psychologiestudentin Lisa Sophie alias ItsColeslaw schon mal nachfragen können, ob die von Schulz etwas arg anbiedernd zur Schau getragene Abscheu gegenüber der industriellen Tierhaltung auch der Haltung der SPD-geführten Landesregierungen der Agrarländer Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern entspreche. Die Fragen der Beauty-Youtuberin Ischtar Isik alias Nihan muteten zwar mitunter etwas scheu und naiv an, dafür waren sie aber wegen der Migrationsgeschichte ihrer Familie umso authentischer und ehrlicher, was wiederum Martin Schulz dazu bewog, sich von üblichen Sprachschablonen zu lösen. MrWissen2go, der im wahren Leben Mirko Drotschmann heißt, ging hingegen sofort in die Vollen. Schulz, so sagte er, habe sich ja vermutlich die Forderung nach mehr „sozialer Gerechtigkeit auf den Unterarm tätowiert“. Wie es dann sein könne, dass nach so vielen Jahren Regierungsverantwortung der SPD immer noch so viel im Argen liege: „Hat die SPD es verbockt?“ Härter kann man bei einem Sozi kaum einsteigen. Und als Schulz zu seiner Verteidigung vorbrachte, es sei doch die Union, die 12 Jahre die Kanzlerin stellte, legte er sofort nach: „Aber Sie stellen die Arbeitsministerin“. Man merkte, dass Drotschmann bei ARD und ZDF arbeitet. Alle vier waren nicht weniger kritisch als die meisten professionellen Journalisten, auch wenn allen – so schnoddrig und frech sie auf ihren Kanälen sie auftreten mögen - doch die Nervosität und der Respekt vor dem Polit-Promi anzumerken war. Der Tweet eines Zuschauers brachte es auf den Punkt: „Die Fragesteller nehmen sich selbst nicht wichtiger als ihre Fragen.“ Schöne Grüße an die Moderatoren des TV-Duells, die letztlich auch an ihrer eigenen Eitelkeit scheiterten.

War es ein seriöses Interview oder eine nette Plauderei?

Beides. Nihan erzählte von ihrer Großmutter, die seit Jahrzehnten in Deutschland lebt und immer noch kein Deutsch kann, sprach von ihrer Not, sich deutsch und türkisch zugleich zu fühlen und gerade deshalb nirgendwo zuhause sein zu können. Ist das Plauderei? Ist das seriös? Es ist zunächst einmal anders. Und solche Passagen taten dem Gesprächsverlauf gut, weil Schulz so aus dem starren Panzer aus professionellem Misstrauen schlüpfen konnte, den Politiker sich sonst in Interviewsituationen anlegen. Schön auch die pointierten Überraschungsfragen etwa danach, ob Schulz den aktuellen Milch- und Butterpreis bei Aldi kenne oder wisse, wann bei ihm zuhause der Restmüll abgeholt werde. Schulz wusste darauf übrigens stets eine Antwort, beim Discounterpreis fast auf den Cent genau. Und nutzte sogleich die Gelegenheit, als ehemaliger EU-Parlamentarier zu erklären, dass die Milchwirtschaft eine europäische Angelegenheit sei und wie sehr der Preiskrieg der Discounter den Milchbauern schade. Da war dann auch der ansonsten recht schlagfertige MrWissen2go kurzzeitig baff.

Waren die Antworten von Martin Schulz verständlich?

Eine der Stärken des Kandidaten ist es, große Probleme in der eigenen Nachbarschaft zu verorten und mit einfachen Bildern und Geschichten Lösungswege zu entwerfen. Man wundert sich nur manchmal, dass er wirklich zu jedem komplizierten Sachverhalten – egal ob es um Integration von Menschen aus der Türkei oder die Digitalisierung des Gesundheitswesens geht - einen wirklich „sehr guten Freund“ in Würselen parat hat, der die dazu passende Lebenslage mit ihm gemeinsam durchlitten hat. So viele Freunde, wie Schulz sie aufzuzählen weiß, möchte man auch mal gerne haben. Das kann man Plaudern nennen, ist aber vor allem eine Übersetzungsleistung, die es seinen Zuhörern leichter macht zu verstehen, was er eigentlich sagen will. Man merkte ihm auch an, dass er bemüht war, Fachbegriffe zwar zu nutzen, aber sie anschließend gleich zu übersetzen („Arbeitsvergütung, also das was Du dafür bekommst“, „Geld aus der Solidarkasse, also Geld aus dem Steuerpott“, „Kommunen, also die Städte und Gemeinden“).

Wie cool war Martin Schulz?

„Coolness“ liegt bekanntlich im Auge des Betrachters. Die YouTuber fanden den Mann im gesetzten Alter mit Brille, Bart und Haarkranz jedenfalls überraschend cool. Marcel Scorpion heißt eigentlich Marcel Althaus und war fürs Digitale zuständig, wo Schulz die erwartbaren Schwächen in Sachen digitale Bildung aufwies und an anderer Stelle mit dem Bekenntnis amüsierte, dass er lieber fernsehe als streame. (Reaktion: „Echt?“). Dennoch attestierte der YouTuber dem Kanzlerkandidaten hinterher eine „coole Interviewführung“ und einen „sehr, sehr menschlichen Auftritt“. Besonders imponierte offenbar, wie offen Schulz auch in diesen Gesprächen mit seinen Schwächen und über seine überstandene Alkoholsucht erzählt hat („Ich kenne das Leben ganz unten“) - ohne dabei gleich pädagogisch übergriffig zu werden. Bei den Bewertungen ließen während der Liveübertragung 3700 der rund 14500 Zuschauer den Daumen nach oben deuten, 1900 nach unten.

Was war der Aufreger der Sendung?

Ganz klar: die Offenbarung des „zweitgrößten Mistes“, den er in seiner Jugend verzapft habe. Eigentlich war nach dem „größten Mist“ gefragt, aber den wollte er nicht preisgeben („da schäme ich mich ein bisschen“). Schulz geriet beim Erzählen etwas ins Stocken, überlegte, ob er es nicht doch sein lassen sollte, wusste aber, dass es kein Zurück mehr gab. Also gestand er, dass er mal nach einer durchzechten Nacht „ein Paket Waschpulver ins Freibad geschüttet“ habe, nachdem er über den Zaun des Geländes geklettert war. Dann sei auch noch die Polizei aufgetaucht. Ob man ihn erwischt habe? „Nö, ich war schnell genug“. Dieser bisher ungelöste Fall in der Kriminalhistorie der Stadt Würselen dürfte mit diesem Geständnis endlich aufgeklärt sein.

Weiß man nach den Interviews, wofür Schulz und die SPD stehen?

Jedenfalls konnten die Interviews ein klareres Bild herauskitzeln als die Moderatoren des TV-Duells. Wer, wenn nicht Schulz kann aus der eigenen Biographie ableiten, wie es ist, unten zu starten, sich nach selbst verschuldeten Niederschlägen und einem Schulabbruch zu schütteln und über den Weg der beruflichen Bildung nach oben zu arbeiten zum Buchhändler, ehemaligen EU-Parlamentspräsidenten und SPD-Chef. Es kam ihm dabei freilich entgegen, dass er sich in Fragen der sozialen Gerechtigkeit und der Bildung letztlich doch kaum in Details verlieren musste. Hehre Ziele allein bürgen aber noch lange nicht für überzeugende Konzepten, mit denen diese Ziele auch erreicht werden können. So musste Schulz nicht erklären, weshalb eigentlich ausgerechnet so viele SPD-regierte Bundesländer in Bildungsumfragen schlecht dastehen.

Kann Schulz mit diesem Format die Generation YouTube gewinnen?

Das muss die Generation YouTube beurteilen, ich frage heute Abend mal meinen Sohn und meine Tochter, dann bin ich vielleicht schlauer. Siehe ansonsten auch die Antwort auf die Frage: Wie cool war Martin Schulz.