Der Meister aller Wutreden: Herbert Wehner (1906-1990). Foto: dpa

Im weich gespülten deutschen Parlamentsalltag fehlen große Choleriker wie Wehner oder Strauß. Ein Jammer. Ausgerechnet Christian Linder brilliert nun in der Rolle des Wutredners.

Stuttgart - Es ist Brunftzeit im nordrhein- westfälischen Landtag in Düsseldorf. Christian Lindner wird zum wilden Eber. „Noch eins! Ich sag Ihnen noch eins! Ich sag Ihnen noch eins! Weil Sie sich hier bis auf die Knochen blamiert haben“ . . . „So ein dümmlicher Zwischenruf!“ . . . „Dämlich!“

Wütender FDP-Chef: Der Furor des Christian Lindner

Zwei Minuten 48 Sekunden dauert das Video, mit dem der Bundesvorsitzende und Landesfraktionschef der gebeutelten FDP zum Internet-Star geworden ist. Fast drei Millionen mal ist der Clip im Netz angeklickt worden.

Lindner ist als glänzender Rhetoriker bekannt. Aber solcher Furor, solches Aufbrausen ist man von dem sonst so besonnen und melancholisch wirkenden 36-jährigen Ober-Liberalen nicht gewohnt.

Es ist Minute 22 seiner langatmigen Rede über Unternehmensgründungen, als SPD-Fraktionsgeschäftsführer Volker Münchow (54) dazwischengrätscht. Mit Unternehmensgründungen habe er, Lindner, ja so seine Erfahrungen gemacht, stänkert Münchow. Lindners Vortrag stockt. „Ach, das ist ja interessant.“ Er baut sich auf, holt tief Luft – und los geht’s mit der Wutrede.

Ja, er sei mit seinem Internet-Unternehmen „nicht erfolgreich“ gewesen. Ja, er sei als Unternehmer gescheitert. Aber diejenigen, die mit solchen Vorhaltungen kämen, seien „meistens solche Sozialdemokraten, die das ganze Leben im Staat gearbeitet oder vom Staat gelebt haben“. Bei jeder Silbe hämmert der schmächtige Lindner mit der Faust aufs Rednerpult, als wolle er es zu Kleinholz verarbeiten. Den rechten Arm bewegt er abwechselnd im Takt seiner Wuttirade oder zeigt mit dem Zeigefinger in Richtung des Zwischenrufers.

„Das hat Spaß gemacht“

So plötzlich wie die Wutrede begonnen hat, so abrupt endet sie auch. „Das hat Spaß gemacht“, sagt Linder mit selbstzufriedenem Grinsen und knöpft sein Jackett zu. „Die Emotionen waren echt und kamen von innen“, erklärt er später.

Lindner ist vom Echo auf seine Wutrede „total überrascht“. Mag sein, aber eine bessere Werbung für eine als spießig verschriene Partei kann es kaum geben.

Die Wutrede ist ein qualifiziertes Mittel in der Politik. Für Choleriker ist der parlamentarische Schlagabtausch die perfekte Bühne. Im Stilblüten-Archiv des Bundestages sind Pöbel-Klassiker verewigt wie: Berufsrandalierer, Gangster, Galgenkandidat, Lackschuhpanther, Möchtegern-Schimanski, Nadelstreifen-Rocker, Petersilien-Guru, Putzlumpen, Massenmörder oder Giftspritze.

„Ein Scheiß haben unsere Politiker getan“

Waren das noch Zeiten, als Großmeister der Schimpfkunst wie Herbert Wehner, Franz Josef Strauß, Horst Ehmke, Helmut Schmidt oder Joschka Fischer maulten, schimpften und wüteten. Mit 58 Ordnungsrufen ist der frühere SPD-Fraktionschef Herbert Wehner unerreichter Spitzenreiter. Hinter ihm landen Heinz Renner (KPD) mit 47 und Ottmar Schreiner (SPD) mit 40 Ordnungsrufen. Strauß (CSU) brachte es gerade mal auf eine offizielle Rüge.

Wehner ist auch der Lieblingscholeriker von Kabarettist Hans-Joachim Heist. In der ZDF „heute-show“ gibt er den Schreihals Gernot Hassknecht.

Was die Fähigkeiten unserer Politikern angeht, hat Spießer Hassknecht so seine eigene Meinung: „Ein Scheiß haben unsere Politiker getan. Einen Scheiß“, brüllt er los. „Nichts hat sich geändert. Die Zockerschweine stapeln weiter ihre Kohle und lachen sich kaputt über uns blöden Schwachmaten.“ Ob Lindner auch ein Hassknecht-Fan ist? Zumindest hat er mit seiner Wutrede positiv zur parlamentarischen Streitkultur beigetragen.

„Waschen Sie sich erst einmal“

Psychologisch gesehen ist Wut eine impulsive und aggressive Reaktion auf eine als unangebracht empfundene Situation oder Bemerkung. Um Seelenkunde und öffentliche Empörung haben sich Wehner und Strauß nie gekümmert. „Hodentöter“ nannte der SPD-Zuchtmeister den CDU-Abgeordneten Jürgen Todenhöfer. Jürgen Wohlrabe (CDU) redete er als „Herr Übelkrähe“ an, und der Unionsmann Schneider war für Wehner der „Ehrab-Schneider“.“ Den CDU-Abgeordneten Heiner Möller provozierte er mit dem Satz: „Waschen Sie sich erst einmal! Sie sehen ungewaschen aus.“ Zwei Minuten später wieder: „Waschen Sie sich erst einmal!“

Der ehemalige CDU-Generalsekretär Heiner Geißler, rhetorisch selbst wenig zimperlich, bezeichnete Wehner anerkennend als die „größte parlamentarische Haubitze aller Zeiten“. Ex-Kommunist Wehner ließ die Emotionen in seinen Reden gezielt hochkochen. Seinen Lieblingsfeind CSU-Chef Strauß verglich er mit Joseph Goebbels. Der streitlustige Bajuware revanchierte sich mit Polemiken wie: „Bei Ihnen, Herr Wehner, ist das deshalb möglich, weil Sie Ihre Umwelt so zu behandeln pflegen, wie ostelbische Gutsbesitzer früher angeblich ihre Kutscher behandelt haben.“

„Genscher, der marokkanische Teppichhändler“

Über Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) grantelte „FJS“: „Der Genscher ist eine armenische Mischung aus marokkanischem Teppichhändler, türkischem Rosinenhändler, griechischem Schiffsmakler und jüdischem Geldverleiher und ein Sachse.“ Der CSU-Übervater war genauso wieder frühere SPD-Kanzler Helmut Schmidt (Spitzname: „Schmidt Schnauze“) für seine knüppelharte Rhetorik und geschliffenen Attacken auf den politischen Gegner bekannt. Einen Demonstranten auf einer Wahlkundgebung kanzelte Strauß ab: „Wenn’s schon kein Hirn haben, dann halten Sie’s Maul wenigstens. Dieses dämliche Gequatsche eines politisierenden Beatles!“

Legendär auch die bekannteste Entgleisung vom grünen Ex-Außenminister Joschka Fischer aus vorministerieller Zeit: „Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch“, sagte er zu CSU-Bundestagspräsident Richard Stücklen.

„Können Sie mal das Maul halten“

Auch Ex-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück (SPD) hat sich mit seinem losen Mundwerk um die Gattung der Wutrede verdient gemacht. Bayerns Ministerpräsidenten Horst Seehofer nannte er „eine völlig lose Kanone an Deck. Der ändert seine Meinung viermal pro Tag.“ Erlesen auch die Auslassung des früheren rheinland-pfälzischen Landesvaters Kurt Beck (SPD). Bei einem Interview fauchte er einen Zwischenrufer an: „Können Sie mal das Maul halten einen Moment, einfach das Maul halten, wenn ich ein Interview mache!“

Nach Sigmund Freud, dem Vater der Psychoanalyse, resultiert die Wutrede aus dem angeborenen Aggressionstrieb des Menschen, der, wenn dieser Trieb unterdrückt wird, zu seelischen Störungen und Charakterschwäche führt. Doch ausgerechnet die Stillen im Lande ernten Anerkennung und Lob, wenn sie ausrasten. Wie Außenminister Frank-Walter Steinmeier, der im Mai 2014 bei einer Rede auf dem Berliner Alexanderplatz gegen Pöbler wütend zurückkeilte.

„Sie Schmeißfliege“

Unvorstellbar, dass Kanzlerin Angela Merkel Journalisten als „Schmeißfliege“ beschimpft wie weiland Franz Josef Strauß. Der für seine reizbare Stimmung bekannte frühere Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) soll sogar mit Schreibutensilien und Aktenordern um sich geschmissen haben.

Ist die Wutrede bei Politikern noch geduldet, wird sie von Fußball-Trainern geradezu erwartet. Am 10. März 1998 hielt Giovanni Trapattoni die Mutter aller Wutreden. Das sinnfreie Gestammel des Trainers vom FC Bayern München gehört zu berühmtesten Ausrastern der deutschen Fußball-Geschichte: „Ich habe fertig.“„Was erlaube Struuunz.“ „In diese Spiel es waren zwei, drei oder vier Spieler, die waren schwach wie eine Flasche leer.“ „Ein Trainer sehen was passieren in Platz.“

In Rage geriet 2003 auch der damalige DFB-Teamchef Rudi Völler: „Ich kann diesen Käse nicht mehr hören nach jedem Spiel . . . Das ist das Allerletzte“, polterte er vor laufenden Kameras. Moderator Waldemar („Weizen-Waldi“) Hartmann bescheinigte er: „Du sitzt hier locker auf deinem Stuhl, hast drei Weizenbier getrunken und bist schön locker.“

„Am Arsch geleckt. Das Fass ist absolut voll“

VfB Stuttgart-Coach Bruno Labbadia ließ sich 2012 nach einem 2:2 gegen Bayer Leverkusen während einer Pressekonferenz zu einer Wutrede hinreißen: „Ich kann gewisse Dinge nicht akzeptieren, wenn der Trainer wie der letzte Depp dargestellt wird, als hätte er gar keine Ahnung . . . Am Arsch geleckt! Das Fass ist absolut voll.“

Der wegen Steuerhinterziehung in der JVA Landsberg einsitzende Ex-Bayern-Chef Uli Hoeneß ist ebenfalls nicht als Leisetreter bekannt. Bei der Hauptversammlung des FC Bayern im November 2007 redete er sich mit hochroten Kopf in Rage, als Fans sich über schlechte Stimmung auf den Rängen der Allianz-Arena beschwerten. Ihre Kritik kanzelte er als „populistischen Scheiß“ ab: „Die Scheißstimmung, für die seid ihr doch zuständig und nicht wir. Es kann nicht sein, dass wir uns jahrelang den Arsch aufreißen und dann so kritisiert werden. Was glaubt ihr denn, wer ihr seid?“

Auch Mimen können wüten. Schauspieler Klaus Kinski beschimpfte 1971 bei einem Rezitationsabend einen Zuschauer, der auf die Bühne kletterte als „Du dumme Sau!“ Auch Jesus habe Störenfriede mit einer Peitsche traktiert und ihnen in die Fresse gehauen!, schrie der auf die Darstellung psychopathischer Charaktere spezialisierte Kinski.

Heute werden politische Kontroversen im Parlament, Talkshows und in der Öffentlichkeit diszipliniert und kontrolliert ausgetragen. Bloß nicht zu viele Affekte zeigen. Dabei kann so ein gepflegter Wutausbruch richtig gut tun, wie man am Beispiel Christian Lindners sieht. Auch Trapattoni verließ nach seinem legendären „Ich habe fertig“ mit stolzgeschwelter Brust den Raum.

„Mit mir können Sie das ja machen“

Schon der antike griechische Philosoph Aristoteles wusste: Wem der Zorn fehlt, dem fehlt auch die Selbstachtung. Wer jede Beleidigung, jeden Zwischenruf, jede bittere Pille schluckt, wird zum willkommenen Opfer für Spott und Häme. Als Chef-Liberaler weiß Christian Lindner davon ein Lied zu singen.

„Herr Kollege, mit mir können Sie das ja machen“, schmetterte er dem gelernten Kaufmann Münchow entgegen. „Ich bin FDP-Vorsitzender, ich bin andere Anwürfe gewohnt. Aber welchen Eindruck macht so ein dümmlicher Zwischenruf wie Ihrer auf irgendeinen gründungswilligen jungen Menschen?“ Wo er recht hat, hat er recht.

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