Zwei Mächtige, die in der Provinz aufgewachsen sind: Merkel und Schulz Foto: dpa

Wo sind die Wurzeln der beiden Kanzlerkandidaten Angela Merkel und Martin Schulz? Eine Reise ins ostdeutsche Templin, wo Merkels Mutter einst SPD-Chefin im Kreistag war, und ins westdeutsche Würselen, wo Schulz einst ein Spaßbad errichten ließ.

Würselen/Templin - Wer sich ein Bild machen möchte, wie der SPD-Spitzenkandidat Martin Schulz im Kampf um die Macht vorankommt, der könnte sich den Brunnen vor dem Rathaus in Würselen anschauen. Schulz war da mal Bürgermeister. Der Brunnen ist ein komplexes Gebilde. Zwei Schiffsschrauben sind zu erkennen und viele Zahnräder. Von den Schiffschrauben dreht sich nur noch eine. Ein dünner Wasserstrahl treibt sie an. Die Zahnräder sind wie erstarrt, festgeschweißt, von Pflastersteinen eingekeilt. Da bewegt sich nichts mehr.

Der Brunnen ist ein Werk des Bildhauers Albert Sous. Er hat mit Martin Schulz noch eine Rechnung offen. Aber das ist wieder eine andere Geschichte. Und es war kein Motiv, als er den Brunnen schuf. Würselen ist seit einem halben Jahr die bekannteste Kleinstadt Deutschlands. Als Schulz antrat, um Angela Merkel aus dem Kanzleramt zu vertreiben, wurde der Name seines Heimatortes zu einer Art Kampfbegriff. Würselen ist für Schulz der Gegenpol zur Bürgerferne und Abgehobenheit, die er Merkel unterstellt. Es ist der Platz, an dem seine Bodenhaftung zu besichtigen sein soll; das Biotop, in dem sich seine Läuterung von der gescheiterten Existenz zum Politprofi vollzog; das Labor, wo er das Geschäft der Macht erprobte; das erste Kapitel seiner Erfolgsgeschichte.

Europa beginnt an den Ortstafeln von Würselen

Würselen? „Eine Stadt wie viele im Rheinland“, sagt Andreas Dumke, SPD-Chef vor Ort, „sie hat eigentlich keine besondere Qualität.“ 40 000 Einwohner und doch nur ein großes Dorf. Das Rathaus sieht aus, als ob der Sparkassendirektor nebenan es gleich mitgebaut hätte, als seine neue Filiale entstand. Den Passanten in der Kaiserstraße, wo die meisten Geschäfte sind, ist nicht anzusehen, dass Würselen nach dem Niedergang des Bergbaus einen schwierigen Strukturwandel zu bewältigen hatte. Die Urbanität dieser Einkaufsmeile endet allerdings im zweiten Stock. Höher sind die Häuser selten.

Tief im Westen liegt die Stadt. Westlicher geht es kaum in Deutschland. Wer über die Autobahn anreist, liest überwiegend ausländische Namen auf den Schildern: Antwerpen, Brüssel, Liège. Grenzen sind nah, aber sie behindern das Leben nicht, sie eröffnen neue Horizonte. Die Leute, die hier leben, denken notgedrungen europäisch. Europa beginnt an den Ortstafeln von Würselen.

Schulz sei „der teuerste Bürgermeister von Würselen“ gewesen, sagen seine Gegner: Leute wie Harald Gerling (72), der früher für die CDU im Stadtparlament saß. Er spielt auf dessen Dienstwagen und Chauffeur an. Heute ist der Bürgermeister im eigenen Auto unterwegs. Gerling versichert aber, er könne „nicht nur Negatives“ sagen über den ehemaligen Rathauschef – und bemüht dann wieder einen Superlativ: Er halte ihn für „die größte Sprechblase von Würselen“, bewundere ihn für sein Redetalent, seine leutselige Art. Die Initiative für eine Freilichtbühne auf der nahen Burg Wilhelmshöhe rechne er ihm hoch an. Und mit dem unermüdlichen Kampf gegen Fremdenfeinde sei er „voll auf meiner Wellenlänge“, so der Christdemokrat, der selbst eine syrische Flüchtlingsfamilie im eigenen Haus wohnen lässt. Schulz wäre für ihn „ein idealer Vizekanzler“.

Die SPD hat momentan 400 Mitglieder

Für die SPD in Würselen war der Bürgermeister Schulz eine mittlere Katastrophe. Damit kommen wir zurück auf den Künstler Albert Sous. Der war einer seiner Widersacher, als Schulz einst das alte Freibad planierte und stattdessen ein Spaßbad errichten ließ. Sous sammelte 4000 Unterschriften gegen das Projekt und bewarf Schulz mit kopierten Hundertmarkscheinen, als dieser das Bürgerbegehren wegen eines Formfehlers scheitern ließ. Bei der nächsten Wahl verlor die SPD zehn ihrer 24 Stadtverordneten. Schulz setzte seine Karriere in Brüssel fort.

„Die SPD ist hier eine Familie“, sagt der Stadtverordnete Dumke. Schulz hat ihn vor 34 Jahren in die SPD aufgenommen, als er noch Buchhändler war. Einer seiner Neffen war Dumkes Freund. Dessen spätere Frau hat bei Schulz das Geschäft mit der Literatur erlernt, den Laden dann übernommen, als er Politiker wurde. Sie ist auch die Schwester des amtierenden SPD-Bürgermeisters. Der Satz mit der Familie ist wörtlich zu nehmen. Der heimischen SPD hat der Schulz-Hype 20 neue Mitglieder beschert. Jetzt sind es 400, es waren aber auch schon doppelt so viele. Für die Buchhändlerin brachte der Karriereschub ihres ehemaligen Chefs hingegen „kein Konjunkturprogramm“. Auch der SPD-Chef von Würselen empfindet keinen Stolz auf den prominenten Genossen. Klar, Schulz sei einer von ihnen geblieben. „Er trägt den Herrn Parteivorsitzenden nicht vor sich her“, sagt Dumke, „aber ich würde mir wünschen, dass er mehr Tacheles redet.“

Merkels Mutter unterrichtet noch Englisch an der VHS

Wenn Angela Merkel die Gene ihrer Mutter hat, dann könnte ein Wunsch von Horst Seehofer in Erfüllung gehen. Hinweise darauf finden sich im Programmheft der Volkshochschule von Templin. Seehofer hatte unlängst erklärt, er könne sich gut vorstellen, dass Merkel 2021 zum fünften Mal Kanzlerin wird. Sie wäre dann 67. Herlind Kasner ist 89 und hat sich auch noch nicht zur Ruhe gesetzt. In der kommenden Woche beginnen drei neue VHS-Kurse, in denen sie Englisch unterrichtet: „Let’s go on learning English“, lautet ihr Motto.

Herlind Kasner lebt seit 60 Jahren in Templin. Hier hat sie ihre Tochter Angela und deren Geschwister aufgezogen. Als Englischlehrerin durfte sie damals nicht arbeiten, weil ihr Mann Pfarrer war – für die Machthaber in der DDR ein verdächtiges Subjekt. Nach dem Untergang der DDR ging die Tochter in den Westen und Herlind Kasner zur SPD. Sie war Fraktionsvorsitzende im ersten demokratisch gewählten Kreistag. Als Merkel Kanzlerin wurde, hat Mutter Kasner sich von den Genossen „mit einem freundlichen Brief verabschiedet“, wie Christian Hartphiel erzählt, SPD-Chef im Stadtparlament.

Die Stadtmauer ist fast unbeschädigt

Zu Templin fallen Hartphiel drei Dinge ein: Die „Perle der Uckermark“ (Eigenreklame) hat nur 16 000 Einwohner, zwei Drittel davon im Rentenalter, und zählt doch zu den größten Städten in Deutschland. Nach der Fläche gerechnet ist es größer als Leipzig und München. Templin verliert sich fast in der Fläche, die das Städtchen umgibt: Kiefernwälder, Schorfheide, Schilf und Hunderte von Seen. 80 Kilometer sind es nach Berlin.

Die wichtigste Sehenswürdigkeit fällt sofort ins Auge: eine weithin unbeschädigte Stadtmauer – laut Merkel „die besterhaltene“ neben Rothenburg ob der Tauber. Sie ist aus wuchtigen Granitblöcken aufgeschichtet, welche die Gletscher der Eiszeit aus Schweden herangeschoben haben. Die sind so grobschlächtig wie der Charme vieler Einwohner. Der SPD-Mann Hartphiel schwärmt dennoch von den Vorzügen der Gegend: „Hier kann jeder an einen See fahren und sich allein ans Ufer setzen.“ Es ist ein Biotop, in dem Eigenwilligkeit gedeiht.

Die Russischlehrerin stellt Merkel ein perfektes Zeugnis aus

Der Zugang zu Merkels Kindheit führt vorbei an einem Aschenbecher, einem Rollator und verbeulten Briefkästen. Im Windfang von „Haus Fichtengrund“ paffen die heutigen Bewohner ihre Feierabendzigarette. Es sind Menschen, die in den Behindertenwerkstätten der Waldhofsiedlung arbeiten. Hier war früher das Zuhause der Familie Kasner: ein zweistöckiges Gebäude, das in etwas schrillerem Grün leuchtet, als der Namen vermuten ließe. Merkels Vater leitete eine kirchliche Weiterbildungsstätte. Sie selbst hat ein paar Hundert Meter weiter ihr Abitur gemacht. Inzwischen befindet sich dort eine „Naturschule“, in der nach den Prinzipien der italienischen Reformpädagogin Maria Montessori unterrichtet wird. Zu Merkels Pennälerzeiten war von Reformpädagogik nicht die Rede. Angela Kasner kam dennoch gut zurecht. Für ihren ehemaligen Physiklehrer war sie „keine Streberin“, aber „eine Idealschülerin“ – wenn auch „ständig unterfordert“, wie der Kollege ergänzt, der für das Fach Mathematik zuständig war. „Sie war die Sitte in Person“, erinnerte sich ein früherer Mitschüler. Die Russischlehrerin stellt ihr ein perfektes Zeugnis aus: „Ich hatte nie wieder eine derart hochbegabte Schülerin.“ Mit 15 durfte der Teenager Angela zur Belohnung nach Moskau. In der Hauptstadt des Kommunismus, so Merkel-Biograf Gerd Langguth, habe sie sich ihre erste Beatles-Platte gekauft.

20 Autominuten von Templin entfernt liegt das Wochenendhaus der Kanzlerin. Beim Einkauf im örtlichen Supermarkt bleibt sie unbehelligt. Es würde sie keiner ansprechen. Der SPD-Mann Hartphiel sagt: „Ich glaube nicht, dass die Leute hier den Mut hätten, der privaten Kanzlerin die Meinung zu geigen.“

Gelegentlich wird Merkel in Templin gesehen

Merkel wird in Templin gelegentlich gesehen, sei aber „nicht präsent in der Stadt“. Hartphiel sagt: „Man erkennt nirgends, dass sie hier gelebt hat.“ Zahllose Hinweistafeln weisen Besuchern einen Weg durch die Geschichte der brandenburgischen Kleinstadt. Am Prenzlauer Tor findet sich sogar ein Täfelchen, das vom Asby-Diabas erzählt, einer Gesteinsart aus Skandinavien, die dort vermauert ist. Ein Schild, das auf Merkels Herkunft hinweist, gibt es nicht. Das Wirtshaus Rossschwemme hatte seinen Gästen einst „Wandern auf den Spuren der Kanzlerin“ angeboten. Die Nachfrage war wohl gering, das Lokal ist zu.

Hinter den Kulissen wurde darüber verhandelt, Merkel zur Ehrenbürgerin Templins zu ernennen. Dafür fand sich bisher keine Mehrheit unter den Stadtverordneten. Nach der Wahl will der Bürgermeister es noch einmal versuchen. Somit bleibt Erna Taege-Röhnisch vorerst die einzige Ehrenbürgerin. Sie ist für ihre Mundartgedichte berühmt. Zumindest in Templin.