Auch das kann ein großer Wunsch sein, der noch einmal alle Kräfte mobilisiert: Stella Waider (links) und Uschi Bachmann begleiten Bernhard Eisele zur Beerdigung seines Sohnes in Geislingen. Foto: Horst Rudel

Wenn die Kraft zu Ende geht, bleibt oft noch ein letzter Wunsch. Ein außergewöhnliches Fahrzeug hilft Schwerkranken, ihn zu erfüllen. Sei es die Tour ans Meer – oder zu einer Beerdigung.

Geislingen - Das Leben nimmt seltsame Wege. Solche, die kaum zu begreifen sind. Bernhard Eisele ringt mit den Tränen, als er von jenem Telefonat erzählt, das er erst vor kurzem noch mit seinem Sohn geführt hat. An einem normalen Sommerabend. Nichts besonderes. Am nächsten Tag klingelt das Telefon erneut. Seine Ex-Frau meldet sich. Sie überbringt eine unfassbare Nachricht: Der Sohn ist tot. Herzinfarkt mit 41, aus dem Nichts. „Er war kerngesund“, sagt Eisele.

Der 66-Jährige ist erschüttert. Denn er hat nicht nur den schweren Verlust zu tragen. Er weiß auch, dass es für ihn kaum möglich sein wird, sein Kind auf dessen letztem Weg zu begleiten. Eisele ist schwer krank. Die Lunge macht nicht mehr mit, er braucht rund um die Uhr Sauerstoff und medizinische Betreuung. Wenn der kräftige Mann von zwei Helfern gestützt aus seinem Rollstuhl aufsteht und einige Schritte geht, gerät er so außer Atem, dass der Knopf an der Flasche hochgedreht werden muss. 42 Jahre lang hat er gearbeitet und dabei allerlei Dämpfe eingeatmet. Geblieben davon sind ihm die Frührente mit 58, eine Unzahl Krankenhausaufenthalte, mehrere Tage im Koma und so wenig Geld, dass er das Mannheimer Pflegeheim, in dem er inzwischen lebt, nicht allein bezahlen kann. Geschweige denn einen Krankentransport mit Fachpersonal zur Beerdigung nach Geislingen am Fuße der Schwäbischen Alb.

Das Sozialamt lehnt ab

Eisele ruft beim Sozialamt an. Er bittet die Behörde, ihm zu helfen. Doch die Übernahme der Fahrtkosten scheitert an einem simplen Buchstaben. Der Rentner ist zu 90 Prozent schwerbehindert, ein „G“ für „Gehbehindert“ steht im Ausweis. Doch er bräuchte „aG“ für eine „außergewöhnliche Gehbehinderung“. Das Amt lehnt ab.

Der Trauernde ist verzweifelt. Doch jemand im Pflegeheim meint es gut mit ihm. Er bekommt den Tipp, sich beim Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) zu melden. Der betreibt in Mannheim den WünschewagenBaden-Württemberg. Ein umgerüstetes Krankentransportfahrzeug, von Spenden angeschafft und betrieben, von Ehrenamtlichen begleitet. Es soll Menschen wie Eisele, deren Tage gezählt sind und die finanziell nicht auf Rosen gebettet sind, einen letzten Wunsch erfüllen. Unbürokratisch und kostenlos. Der 66-Jährige schreibt eine E-Mail. Und bekommt am nächsten Tag die Zusage.

Wenige Tage später treffen sich um 8.30 Uhr Stella Waider und Uschi Bachmann auf der Mannheimer ASB-Wache. Zwei Frauen, wie sie kaum unterschiedlicher sein könnten. Hier Waider, die junge Medizinstudentin, die aus Berlin nach Heidelberg gezogen ist, weil es in der Hauptstadt keinen Studienplatz für sie gab. Die als Rettungsassistentin Einsätze fährt. Und die schon zahlreiche Fahrten im Wünschewagen mitgemacht hat, erst in Berlin, dann in Mannheim. Dort die Ruheständlerin Bachmann aus Sandhausen, kurpfälzer Dialekt, früher Pharmareferentin. Sie macht an diesem Tag ihre erste Fahrt. Und ist trotz ihrer lockeren, fröhlichen Art mächtig aufgeregt: „Ich habe seit drei Uhr kein Auge mehr zugetan.“

Die Chemie zwischen Fahrgast und Team stimmt

Die beiden machen das Auto klar und fahren los zum Pflegeheim. Eisele kann während der Fahrt sitzen und muss nicht wie andere liegen. Er ist heute Fahrgast, nicht Patient. Dieses Wort ist dem Team wichtig. Die Atmosphäre ist ungezwungen, man redet viel. Die beiden Begleiterinnen haben ein gutes Gefühl. Und Eisele sagt: „Das passt.“

Um 12 Uhr ist Geislingen erreicht. Die letzte Etappe vor der Beerdigung. In einem Gasthaus stärkt sich die kleine Gruppe nach der langen Fahrt. Eisele muss den Hintereingang nehmen, um Treppenstufen zu vermeiden. Er atmet schwer. Beim Essen erzählt der Fahrgast von seinem Leben, die Begleiterinnen von ihrer Motivation. „Trotz der ernsten Umstände macht die Aufgabe sehr viel Spaß. Man bekommt da eine ganz andere Dankbarkeit zurück als im Rettungswagen“, sagt Stella Waider. Mit manchem Fahrgast war sie mehrere Tage unterwegs. „Man ist da schnell beim Du und mittendrin im Leben von jemandem, den man vorher nicht kannte.“ Und der, zumindest für die Zeit der Fahrt, auch noch einmal mittendrin im Leben stehen kann. „Die Angehörigen staunen oft, wie die Leute für diese Fahrt die letzten Kräfte mobilisieren“, weiß Waider.

Auch Uschi Bachmann, die sich im Ruhestand sinnvoll engagieren wollte und beim Bügeln im Radio vom Wünschewagen gehört hat, spürt schon nach der monatelangen Vorbereitung und den ersten Stunden im Fahrzeug, „dass es einem selbst viel gibt, diese sehr besondere Sache zu machen und den Leuten eine letzte große Freude zu bereiten“.

Nachdenken über die eigene Endlichkeit

Doch die Kehrseite gehört dazu. Ob bei der Fahrt ans Meer mit einer 20 Jahre jungen Frau, die an einem Gehirntumor leidet, beim Ausflug im Heißluftballon mit einer Krebskranken oder eben bei der Tour zu einer Beerdigung – der Tod fährt immer mit.

„Das macht einen nachdenklich und erinnert an die eigene Endlichkeit“, sagt Studentin Waider und es wird kurz still am Tisch. Man müsse die eigenen Ängste ablegen, dann komme man auch mit den Fahrgästen viel besser klar, berichtet sie. Mit manchen bleiben die Helfer über den Tag hinaus in Kontakt. Und wenn die Zeit gekommen ist, kann es sein, dass sie zu deren Beisetzung eingeladen werden.

Die Idee des Wünschewagens stammt aus den Niederlanden. Vor einigen Jahren hat der ASB sie in Deutschland eingeführt. Nach und nach wurden mehrere Fahrzeuge in Betrieb genommen. Inzwischen sind es zehn. Das Mannheimer Auto ist seit einem Jahr auf der Straße. Allein die Anschaffung des Fahrzeugs hat 100 000 Euro gekostet. „Wir versuchen, möglichst jeden Wunsch zu erfüllen“, sagt die Projektleiterin Tina Volz. Voraussetzung ist allein, dass das Ziel an einem Tag erreichbar ist.

Fahrt ans Meer oder Kaffeetrinken bei der Familie

Die Wünsche sind ganz unterschiedlich: Vom Kaffeetrinken in der alten Wohnung mit der Familie bis hin zu einem letzten Besuch am jahrzehntelangen Urlaubsort ist alles dabei. Eintrittskarten oder Hotelzimmer versucht das Team kostenlos zu bekommen. Der Rest wird über ASB-Eigenmittel und Spenden finanziert. Rund 20 Touren hat der Mannheimer Wagen inzwischen gemacht. „Die Dankbarkeit und Freude der Fahrgäste sind enorm“, weiß Tina Volz.

Das Projekt hat sich herumgesprochen. Und es wird ausgebaut. Baden-Württemberg soll als erstes Bundesland einen zweiten Wünschewagen bekommen. Er wird in Ludwigsburg stationiert sein. Offiziell fällt der Startschuss im November, doch das Fahrzeug ist schon da und die erste Schulung für die freiwilligen Helfer abgeschlossen. Ein Wunsch liegt bereits vor, der schon bald erfüllt werden könnte. In Zukunft soll der Ludwigsburger Wagen eher den württembergischen Teil des Landes bedienen und der Mannheimer eher den badischen.

Die Helfer suchen sich die Fahrt selbst aus

In Geislingen wird es ernst. Stella Waider und Uschi Bachmann helfen ihrem Fahrgast aus dem Restaurant hinaus und wieder ins Auto. Noch einmal wird die Sauerstoffzufuhr hochgefahren. Der bedrückendste Teil der Fahrt steht an: die wenigen verbleibenden Kilometer bis zum Friedhof. Eine Blechkolonne wälzt sich durch den Ort, mittendrin der Wünschewagen. Für die Tour haben sich die beiden Begleiterinnen freiwillig gemeldet. Wenn ein Wunsch zur Erfüllung ansteht, bekommt das ganze 70-köpfige Team eine E-Mail mit den wesentlichen Informationen. Wer Lust auf die Fahrt und Zeit hat, meldet sich.

Das Auto biegt auf den Parkplatz des Friedhofs ab. Die Sonne strahlt warm von einem blauen Himmel, links und rechts begrenzen die Höhen der Schwäbischen Alb das Tal. Noch einige Meter bis zur Kapelle. Bernhard Eisele kämpft wieder mit den Tränen. Seine beiden Begleiterinnen und ein Freund helfen ihm auch bei der letzten Hürde, den Stufen hinauf zur Tür. Dann hat der 66-Jährige es geschafft. Sein großer Wunsch ist erfüllt. Sein Sohn muss nicht ohne ihn den letzten Weg antreten.