Im Stuttgarter Kessel ist der Streit um die richtige Zahl an neuen Wohnungen voll entbrannt. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Mieterverein und Haus und Grund haben in der Vergangenheit verlässlich genau entgegengesetzte Positionen vertreten. Heute sprechen sie häufig mit einer Stimme – beide stören sich an der Ideologie im Rathaus. Die Stadt verteidigt indes die eigene Wohnbaupolitik.

Stuttgart - Bislang hatten die Eigentümerlobby Haus und Grund und der Mieterverein wenig füreinander übrig. Während die eine Seite von steigenden Mieten profitiert, kämpfen die anderen für das Gegenteil. Daher überrascht es, wenn beide plötzlich die selben Forderungen aufstellen und gleiche Positionen vertreten. Es eint sie die Kritik an der Wohnungspolitik von OB Kuhn (Grüne). Die Stadt jedoch bleibt bei ihrer Strategie.

Das Gesicht des Mietervereins ist Rolf Gaßmann. Der Vorsitzende kämpft seit Jahren für die Interessen des kleinen Mannes. Haus und Grund tritt in der Öffentlichkeit in der Regel in Form von Geschäftsführer Ulrich Wecker auf. Stuttgarter Mieten seien aufgrund der hohen Löhne verträglich, argumentiert Wecker gern. Und doch, vergleicht man aktuelle Aussagen der beiden, ähnelt sich die Schlagrichtung sehr.

Zentrum der Parallel-Kritik ist die Zahl 1800. So viele Wohnungen sollen laut Fritz Kuhn pro Jahr in Stuttgart gebaut werden. Zu wenig, sagen sowohl Gaßmann als auch Wecker. „Die Stadt vermag es nicht einmal, eine schlüssige Bedarfsanalyse vorzulegen, um diese Zahl zu untermauern“, so Wecker. Gaßmann erklärt: „Die Zahl stammt eigentlich von Finanzbürgermeister Michael Föll von der CDU.“ Man habe noch vor Kuhns Amtszeit schlicht berechnet, wie viele Wohneinheiten gebaut werden müssten, um die Einwohnerzahl konstant zu halten. „Mit dieser Zahl sollte vor Jahren der Einwohnerverlust gestoppt werden“, so Gaßmann.

Die beiden Gegenpole haben viele gemeinsame Positionen

Daran angeschlossen sind sich die beiden in einer weiteren Position einig. „Die Herausforderungen haben sich verändert“, sagen sie. Vor rund zehn Jahren hatte die Stadt noch von einem „ausgeglichenen Wohnungsmarkt“ gesprochen und wollte den stetigen Verlust an Einwohnern stoppen. Heute herrscht hingegen „Wohnungsnot“ (Zitat Kuhn) und Stuttgart hat innerhalb weniger Jahre mehr als 40 000 Einwohner hinzugewonnen. „Die Wohnbauziele der Stadt waren nie auf Wachstum ausgelegt, trotzdem wird daran festgehalten“, kritisiert Gaßmann. „Die städtischen Ziele wurden von der Realität überrollt“, so Wecker.

Doch wie soll mehr Wohnraum geschaffen werden? Nach Ansicht beider durch die Suche nach neuen Bauflächen. Das ist ein konfliktbehaftetes Thema. Die Stadt verfährt derzeit nach dem Grundsatz der reinen Innenentwicklung – neue Wohnungen werden nur auf bereits zuvor bebauter Fläche errichtet. „Das ist ein selbst auferlegtes Denkverbot“, urteilt Wecker, „ein grünes Dogma.“ Gaßmann sagt dazu: „Der OB stülpt einen Deckel über die Stadt und legt fest: ,Stuttgart soll nicht wachsen’.“ Einig sind sich Wecker und Gaßmann, dass Freiflächen nicht einfach zugebaut werden dürfen . Beide fordern jedoch eine offene Diskussion.

Doch nicht nur bei der Suche nach Bauflächen vermissen Gaßmann und Wecker eine ehrliche Debatte. Auch im Bündnis für Wohnen habe man das nie gewollt, bemängeln sie. Kuhn hatte nach einigem Zögern den Schulterschluss von Bauwirtschaft, Mieter- sowie Eigentümerlobby und Verwaltung gesucht. Das Bündnis hatte im November 2014 seine Arbeit aufgenommen. Die Seite der Eigentümer hatte den Verhandlungstisch unter Protest rasch wieder verlassen. „Das war nur konsequent. Es hat sich nichts getan“, so Wecker im Rückblick. Der Mieterverein ist bis heute dabeigeblieben. Einig ist man sich jedoch darin, dass die Strategie der Stadt nie zur Diskussion stand. „Das Bündnis hatte keine Freiheiten, die Ziele waren vorab vom OB festgelegt“, so Gaßmann, der damit erneut auf die Zahl 1800 anspielt.

Weiter sagt der Chef des Mietervereins: Er habe den Eindruck, das Bündnis habe allein dem Zweck gedient, zumindest auf dem Papier eine Chance aufzuzeigen, wie ausreichend Sozialwohnungen zur Verfügung gestellt werden könnten. Zur Erklärung: Teil der Strategie des Rathauses ist, dass im Rahmen der jährlich 1800 neuen Wohnungen 300 Sozialwohnungen gebaut werden. Pro Jahr fallen jedoch rund 450 dieser Einheiten aus der Sozialbindung heraus und stehen damit nicht mehr für Menschen mit geringen Einkommen zur Verfügung. Das Delta von 150 Wohnungen sollte mithilfe des Bündnisses aufgefüllt werden. Das Mittel der Wahl ist die Umwandlung bestehender Einheiten in Sozialwohnungen. „Das ist ein kleiner Erfolg“, sagt Gaßmann, fügt jedoch rasch hinzu: „Ich habe das Gefühl, damit ist das Thema für den Oberbürgermeister erledigt.“

Die Stadt verteidigt das eigene Vorgehen

Die Stadt reagiert erstaunlich gelassen auf die geballte Kritik. „Die Forderungen sind ja in gewisser Weise verständlich“, erklärt der Pressesprecher Sven Matis. Er bezeichnet das Ziel von 1800 neuen Wohneinheiten pro Jahr jedoch als „das Machbare“. Weiter betont er, dieses Ziel sei nicht leicht zu erreichen. Und: „Unsere Experten haben diese Zahl sehr präzise berechnet.“ Wie erwartet geht die Stadt in erster Linie auf die Forderung nach neuen Wohngebieten ein. „Wollte man neue Flächen bebauen, würde das mindestens zehn Jahre dauern, bis dort die ersten Wohnungen erstellt werden könnten“, sagt Matis und verweist auf langwierige Genehmigungs- und Abstimmungsprozesse. Zudem habe man große Gebiete in der Pipeline – unter anderem das Olgäle-Areal im Westen, den Neckarpark oder die Rote Wand auf dem Killesberg. „Es kommen also in naher Zukunft zahlreiche neue Wohnungen auf den Markt“, sagt Matis.

Doch die Verwaltung sieht die Lösung des Problems nicht allein im Neubau. „Wir nehmen das Thema Wohnungsbestand sehr ernst“, sagt Matis. Man versuche günstige Wohnungen zu erhalten, unbegründeter Leerstand werde inzwischen geahndet und wer Wohnungen abreißt, müsse Ersatz schaffen. Matis Fazit: „Wir tun unser Bestes und sind an allen Fronten unterwegs.“