Liverollenspiele als Schutzraum, in dem man soziale Verhaltensweisen ausprobieren kann: Szene aus dem Dokumentarfilm „Wochenendkrieger“ Foto: Schneppat

Nach „Heavy Metal auf dem Lande“ und „Punk im Dschungel“ beobachtet er nun „Wochenendkrieger“: Andreas Geiger, der früher vor der Provinz Reißaus nehmen wollte, ist ein Heimatfilmer der etwas anderen Art.

Göppingen - Bärtige Männer in abgewetzten Leder- und Jeansjacken schütteln sich zum tosenden Gebrüll auf der Bühne, Irokesen- und Stachelfrisurträger klatschen bei einem Punkkonzert in Indonesien kompromisslos aufeinander, wütende Horden bestialischer Orks krachen in eine anmutig-edle Elfenarmee – Andreas Geigers Dokumentarfilme fangen oft da an, wo der Tellerrand vielen anderen die Sicht versperrt.

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Sucht man ihn zum Interview bei sich zu Hause auf, verschlägt es einen nach Grünbach, ein Teilort der 10 000-Seelen-Stadt Donzdorf bei Göppingen, gerade noch in der Randzone der Stuttgarter Metropolregion. Grünbach – streckt man hier den Kopf zu lange suchend aus dem Autofenster, ist man schon durchgefahren. Grünbach – kann man sich nicht sofort orientieren, hilft einem hier ein freundlicher, schwäbischer Traktorenlenker: „Zum Geigers Andreas? Da hinten den Berg hoch und links“.

Geiger hat ein Faible für das Beobachten von Subkulturen und außergewöhnlichen Hobbys, speziell die in seiner vertrauten Umgebung. „Interessante Personen gibt’s eben nicht nur in St.Pauli oder Friedrichshain“, sagt der Mann, der eigentlich aus Schwäbisch Gmünd kommt. Im 60-Minüter „Heavy Metal auf dem Lande“ verfolgte er das Treiben der weltgrößten unabhängige Heavy-Metal-Plattenfirma Nuclear Blast, die, vom Rande der schwäbischen Alb aus, den ganzen Globus beliefert. Dabei wollte Geiger der Heimat eigentlich früh entkommen. Doch allen Plänen zum Trotz landete er zunächst an der Ludwigsburger Filmakademie. Ein damals eher unglücklicher Umstand machte ihn zum Dokumentarfilmer: Er flog aus der Spielfilmklasse. Schnell begriff er das als Segen: „Freigeistiges Experimentieren war dann viel eher möglich“. Heute lehrt er nebenbei an der Stuttgarter Merz-Akademie.

Es geht nicht ums Darstellen, es geht ums Erleben

Die Heavy-Metal-Kultur öffnete ihm die Türen zu weiteren Alternativszenen: sein Werk über die Reise der schwäbischen Provinzband Cluster Bomb Unitin die blühende Punkkultur Indonesiens, „Punk im Dschungel“, wurde 2008 für den Adolf-Grimme-Preis nominiert. Auch der Hinweis auf das Universum des Liverollenspiels kam aus jener Ecke. Um dieses geht’s in seinem jetzt auf der Kinoleinwand zu sehenden Streifen „Wochenendkrieger“.

Der abendfüllende Dokumentarfilm entführt in die Welt des „Live Action Role Playing“ (LARP) respektive „Liverollenspiel“. Bei der Fantasy-Variante treffen sich erwachsene Menschen und schlüpfen verkleidet in die Rollen von mystischen Gestalten wie Orks, Elfen, Magier und dergleichen. Auf den ersten Blick erinnert das Ganze an die epischen Schlachten aus den Verfilmungen von Tolkiens „Herr der Ringe“. Nur wird hier eben nicht für oder vor Publikum gespielt. Es geht nicht ums Darstellen, es geht ums Erleben. Und um die Faszination an der fantastischen, märchenhaften Geschichte: „Im Prinzip ist das ja die härtere Fassung von Hänsel und Gretel“, witzelt Geiger.

In Deutschland finden jährlich mehr als 500 solcher öffentlichen Liverollenspielveranstaltungen statt. Regelmäßig dabei ist zum Beispiel Dirk Neumann, Sekretär bei den Grünen. Im Spiel hat er als Fürst des untoten Fleisches die Befehlsgewalt über ein kolossales, meist wütend schnaubendes und grunzendes Soldatenheer. Stegosaurusartige Stacheln thronen drohend auf seiner Schulterpanzerung, eine tiefe, blutdunkelrote Narbe furcht seine rechte Gesichtshälfte. Er wirkt angsteinflößend –vermutlich ein eher ungewohntes Gefühl für jemanden, der unter der Woche Parteisitzungen protokolliert.

Fünf „Wochenendkrieger“ ließen sich von den Kameras begleiten

Dabei ist die Fantasiewelt für die Spieler keine Flucht vor der Realität. „Wir haben es hier nicht mit einer Zusammenkunft verschrobener, dissozialer Außenseiter zu tun“, erklärt Regisseur Geiger, „da finden sich viele höherrangige Fachkräfte und Akademiker“. Im Film heißt es, das Liverollenspiel sei viel eher Training oder Testlauf für den Alltag. Hier lässt sich eruieren, was bestimmte Verhaltensweisen beim Gegenüber auslösen - provozieren, schreien, kämpfen, also alles, was man im Alltag auf Grund gesellschaftlicher Konventionen tendenziell unterlässt. Im Schutz der Rolle, welcher ja auch den Opponenten umgibt, kann man damit experimentieren.

Wie bei jedem anderen Dokumentarfilm, galt es für Regisseur und Team das Vertrauen der Protagonisten zu gewinnen. „Die Gefilmten müssen ihr Leben mit uns teilen, wir begleiten sie zuhause wie auch bei der Arbeit“, so Geiger. Leicht vorstellbar, dass das einer gewissen Überwindung und Eingewöhnungszeit bedarf. Speziell die privaten Fernsehsender hätten viel verbrannte Erde hinterlassen. Zappt man sich durch deren Nachmittagsprogramm, möchten wohl die wenigsten mit den dortigen Akteuren tauschen. Ein Bärendienst für seriöse Dokumentarfilmregisseure wie Geiger: „So wird es natürlich schwieriger, Menschen zu finden, die uns Herz und Haus öffnen“.

Fünf „Wochenendkrieger“ haben diesen Schritt gewagt und ließen sich von den Kameras begleiten. Das Resultat ist ein kurzweiliger, informativer Film darüber, was sich samstags in manchen Wäldern abspielt, während andere gerade vorm Fernseher, hinterm Grill oder auf dem Sportplatz zugange sind. Zudem fesseln die spielinternen Handlungsstränge: An der Seite der Orks kämpft die Herrscherin der Leere Aniesha Fey, gespielt von Gymnasiallehrerin Chris Fano, gegen Elfenkönigin Lenora, eigentlich die schüchterne Studentin Nicole Busch aus Brandenburg. Aber es geht auch um unser Menschenbild, um Identität. Jeder spielt täglich verschiedene Rollen, sei es die des Angestellten, des Elternteils oder Klassenclowns – warum also nicht auch noch die des Gärtners der öligen Pestilenz?

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