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Ich sprang auf den nächsten Eisenbahnzug, um unter der Hölle am Himmel hindurchzurauschen.

Ich sprang auf den nächsten Eisenbahnzug, um unter der Hölle am Himmel hindurchzurauschen. Es war die einzige Chance, im April 2010 der lebensbedrohlichen Flugasche zu entkommen. Der explodierende Vulkan auf Island hatte bereits ganz Europa in Angst und Schrecken versetzt, als ich in Essen aus dem Zug stieg. An der Ruhr, sagte ich mir, schluckt man das bisschen Asche zum Frühstück.

Nach der Ankunft flucht mein Taxifahrer schon beim Einsteigen über die Katastrophe am Bahnhof, über die hässlichen Baustellen, ausgerechnet jetzt, wo Touristen kommen sollen. Das Ruhrgebiet ist "Kulturhauptstadt Europas", das gilt für Essen wie für Duisburg, Bochum etc.

Im Zug hatte ich in einem Aufsatz des heimischen Politikers Wolfgang Clement über die legendäre Zeche Zollverein gelesen, in Wahrheit sei es "ein Kniff" gewesen, als sich Essen im Namen des Ruhrgebiets als Kulturhauptstadt bewarb - und "eine Sensation", als man erfolgreich war.

Ja, dachte ich, seinerzeit war es kein Kniff, es war bitterer Ernst, als sich der Kohle-Kessel Stuttgart 2003 um die Olympischen Sommerspiele 2012 bewarb, und es war beileibe keine Sensation, als man sich am Ende mit seltener Blödheit blamierte. Es war zu erwarten.

In Essener Schaufenstern sehe ich T-Shirts mit Frank Goosens literarischer Botschaft "Woanders is auch Scheiße", und was hätte ich zu entgegnen. Egal ob in Essen, Bochum oder Stuttgart. Wenn du in den Bahnhof einfährst, siehst du den Mercedes-Stern auf dem Turm, und wenn du aussteigst, kommt die Flugasche-Depression.

Kaum im Hotel abgestiegen (im Zimmerpreis ist das Fahrgeld für die Busse und Züge der Region enthalten), fahre ich nach Duisburg, Innenhafen. Ich habe einen Wasser-Spleen, er rührt von der jahrelangen Beschäftigung mit der Stuttgarter Missachtung des Neckars her. In Duisburg hat der Star-Architekt Norman Foster auf grandiose Weise Altes bewahrt, Neues hinzugefügt und die Stadt zum Wasser zurückgebracht. In der alten Küppersmühle am Ufer wurde ein Kunstmuseum eingerichtet. Zurzeit sind Arbeiten von Olaf Metzel zu sehen - der Düsseldorfer Künstler, dies am Rande, hat in Stuttgart 1984 den Fassadenschriftzug "Stammheim" hinterlassen, am Kunstgebäude, Richtung Landtag.

Ich bin einer dieser Provinzler, die überall, wo sie sind, heimische Spuren suchen. Im Duisburger Innenhafen ging ich über eine Hängebrücke, sie wurde nach dem Vorbild von Uhrenarmbändern mit beweglichen Gliedern konstruiert. Die Brücke, habe ich gelesen, kann sich "krumm machen", und erfunden hat diesen genialen Mechanismus Jörg Schlaich, Stuttgart.

Ich bin nicht als Touristenwerber an die Ruhr gereist, es war Flucht. In meinem Provinzlerleben habe ich das eine oder andere Museum gesehen. Aber weltweit liegt nur ein einziges so dicht an der Autobahn, dass man beim Rausgehen befürchten muss, überfahren zu werden. Das ist die Stuttgarter Staatsgalerie, die Tag für Tag ein Stück weiter aus der Stadt und aus dem Bewusstsein der Leute rutscht.

Auch habe ich mir in der einen oder anderen Stadt Baustellen und Baupläne angesehen. Noch nie aber habe ich erlebt, dass die Begriffe Stadtplanung und Stadtentwicklung so stillos vermieden werden wie bei uns. In Investor City. Das gilt für Stuttgart 21, für das Da-Vinci-Projekt (Karlsplatz) oder das Quartier S (Paulinenbrücke).

In vielen Ruhr-Ecken, ob grün oder bewässert oder barbarisch betoniert, spüre ich trotz großer Krise mehr urbane Fantasie, Architektengeist und kulturelles Risiko als bei uns. Der Vorwurf, ich würde Äpfel mit Birnen vergleichen, ist mir wurscht. Tatsache ist: Die totale Stuttgart-21-Mobilisierung paralysiert die Menschen. Unsere Stadt der Zukunft liegt im Tunnel. Mit Islands Flugasche hat Stuttgarts kulturelle Dunstglocke jedenfalls nichts zu tun.

Joe Bauer liest am Mittwoch, 28. April, in der Rosenau. Musikergäste: Stefan Hiss, Dacia Bridges, Michael Gaedt. Karten: www.reservix.de oder 0 18 05 / 70 07 33.