Redaktionsbesuch bei den Stuttgarter Nachrichten: Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Er gilt als Realo: Einen pragmatischen Mittelweg sucht Ministerpräsident Kretschmann auch in der Flüchtlingspolitik. Im Gespräch mit den Stuttgarter Nachrichten sagt er, warum das manchmal weh tut.

Stuttgart - Er hätte nichts sagen müssen. Niemand hätte das Bekenntnis „Der Islam gehört zu Baden-Württemberg“ vermisst, nachdem die Kanzlerin bereits für Deutschland gesprochen hatte. Trotzdem machte Ministerpräsident Winfried Kretschmann eine „klare Ansage“, wie er das nennt.

Die hat allerdings weniger mit Baden-Württemberg als mit ihm selbst zu tun. Denn wenn es ein Themenfeld gibt, das ihn seit jeher umtreibt, das ihm quasi auf den Leib geschneidert ist, dann jenes über das Verhältnis von Mensch, Staat und Religion. Ein Politiker-Philosoph sei er, wird oft gesagt. Und Kretschmann tut viel dafür, diesen Eindruck zu festigen – auch am Donnerstag als Gast unserer Redaktion.

Gleich zu Beginn zitiert er seine Lieblingsphilosophin Hannah Arendt. „In der Demokratie kann man Vorurteile aufhellen“, sagt er auf die Frage, ob er Kritik auf obigen Satz habe einstecken müssen. Ja, er sei gescholten worden, es gebe eben in Teilen der Bevölkerung eine Islamphobie. Dann faltet er seine großen Hände und formt mit ihnen runde, unsichtbare Argumente.

Islam werde „von den Rändern her“ interpretiert

Evolutionsbiologisch gesehen, doziert der studierte Naturwissenschaftler, seien Vorurteile ja durchaus sinnvoll: „Man musste schnell zwischen Freund und Feind unterscheiden, um nicht einen Kopf kürzer zu werden.“ Die Vorurteile dem Islam gegenüber resultieren aber seiner Ansicht nach daraus, dass diese Religion „von ihren Rändern her“ interpretiert wird, also von dort, wo sie „fundamentalistisch ausfranst“. Selbstverständlich sei Deutschland nicht islamisch, sondern christlich-jüdisch geprägt, und niemand wolle etwa Weihnachtsmärkte in Wintermärkte umbenennen. Doch vier Millionen Muslime seien eben Fakt.

Deshalb ist es für ihn keine Frage, dass Muslime Moscheen bauen dürfen. Die Verfassung garantiere die Religionsfreiheit uneingeschränkt. Das bedeutet für ihn aber auch, die Gläubigen nicht an den Rand zu drängen: „Ich kann den Gemeinden nur raten: Wer Moscheen an den Rand bauen lässt, der muss sich nicht wundern, wenn die, die sie besuchen, auch am Rand stehen.“

Ein Minarett benötige eine Moschee ebenso wenig wie eine Kirche einen Glockenturm, sagt er. Aber das sei Tradition und kein Grund für Einschränkungen. Die Antwort auf die Frage nach der Höhe nimmt er gleich vorweg: „Vielleicht einen Meter kürzer als die Kirchtürme, wenn’s daran liegt.“ Auch gegen den Muezzin hat er nichts – aber ohne Lautsprecher. Und wenn man wolle, dass die Imame auf Deutsch predigen, müsse man sie eben hierzulande ausbilden.

Dass es so schwierig ist, den Islam wie andere Religionen zu behandeln, hängt seiner Meinung nach auch damit zusammen, dass ein einheitlicher Ansprechpartner fehlt. Bis es den gibt, will Kretschmann eine Übergangslösung einrichten: Ein Beratungsgremium, in dem Verbände und Einzelpersonen sitzen, könnte zum Beispiel Inhalte des Islamunterrichts festlegen. Wie der Koran ausgelegt wird, gehe den Staat aber nichts an. Und auch in der Bibel gebe es ja grausame Passagen, sagt der praktizierende Katholik und zitiert einen passenden Psalm.

Prävention funktioniere nur über islamischen Religionsunterricht

„Wenn Sie hundertprozentig unvorbelastete Gesprächspartner wollen, mit wem können Sie da bitte reden?“, fragt er. Den Islamverbänden bescheinigt er jedenfalls eine positive Entwicklung, sie arbeiteten auch immer professioneller.

Kretschmann räumt allerdings auch ein, dass sich die islamistische Szene andererseits radikalisiert. Was tut er dagegen, dass der IS-Terror so viele junge Muslime anzieht? Er blättert kurz in seinen Unterlagen, klappt sie aber gleich wieder zu. Das jüngst beschlossene Antiterrorpaket stärke den Verfassungsschutz, um Islamisten schneller zu erkennen, sagt er. Prävention aber funktioniere nur über islamischen Religionsunterricht. Selbst erwachsene Muslime wüssten ja oft sehr wenig über den Koran. „Religiösen Analphabetismus“ hat er das einmal genannt.

Vom IS zu Flüchtlingen ist der Gedankensprung nicht weit. Ausführlich erläutert der Regierungschef, warum er – trotz aller Probleme – die Aufnahme von missbrauchten Frauen aus dem Nahost-Kriegsgebiet zugesagt hat. Viel schwieriger sei der Umgang mit den vielen nicht asylberechtigten Flüchtlingen vom Balkan. Diese Menschen in schlechte Lebensverhältnisse abzuschieben tue weh, bekennt er. Das sei aber unumgänglich: „Die großen moralischen Fragen auf der Welt können wir nicht einfach lösen.“ Jedenfalls nicht mit dem Asylrecht.

"Ich suche die Balance in der Mitte"

Da klingt der Grüne wie ein Christdemokrat, da wird der Philosoph zum Pragmatiker. Kretschmann weiß schließlich, dass er für die Aufnahme der Flüchtlinge die Bevölkerung benötigt. Deren Stimmung hält er zwar für freundlich, aber auch fragil: „Ich suche die Balance in der Mitte zwischen den Flüchtlingsorganisationen und denen, die sagen: Macht hier bitte zu.“

Und dann fügt er leise, aber ohne bedauernden Unterton hinzu: „Ich kann nicht auf der Grundlage der Bergpredigt regieren.“ Dort stehe ja zum Beispiel, dass schon jener der Hölle verfalle, der seinen Brüdern nur zürne.

Dass er sich ab und an ärgert, mit Sicherheit auch über Parteibrüder, darf man wohl annehmen. Umgekehrt gilt das aber genauso. So haben ihn die eigenen Leute kürzlich heftig dafür gescholten, dass er eine Flüchtlingsfamilie aus Freiburg abgeschieben ließ. Doch Abschiebungen, daran lässt er keinen Zweifel, gehören zu seiner Politik. Ebenso wie der Versuch, Asylverfahren zu beschleunigen oder soziale Fluchtursachen auf dem Balkan zu beseitigen.

Und wenn die Kirche Asyl gewährt? Zwei Fälle gibt es angeblich im Südwesten. So etwas will Kretschmann nur als symbolischen Akt dulden. Das Ausmaß dieses zivilen Ungehorsams dürfe die Rechtsordnung nicht in Frage stellen, sagt der frühere Biologie-, Chemie- und Ethiklehrer. Und liefert gleich den theoretischen Unterbau des Rechtsphilosophen John Rawls dazu. Der fordere übrigens auch, dass der Ungehorsame die Folgen seiner Tat trägt. So wie er selbst, als er in den 80-er Jahren in Mutlangen gegen Pershing-Raketen demonstrierte und sich wegtragen ließ. „Lothar Späth hat damals gesagt: Das kostet 39,50 Mark. Da haben wir gemault, aber eigentlich hat er Recht.“

Wahlkampf will er noch nicht machen

So verständnisvoll zeigt sich der Grüne allerdings nicht immer gegenüber den Christdemokraten. Mit seinem Kontrahenten Guido Wolf will er sich demnächst treffen, um den Wahlkampfrahmen zu besprechen. Oder vielmehr um zu verabreden, dass der Wahlkampf später beginnt. Damit wolle er keinesfalls verhindern, dass die Opposition ihn kritisiert, versichert er. Auch über Flüchtlingspolitik dürfe man streiten – solange man nicht „die Emotionen hochtreibt“.

Nein, Wahlkampf will er noch nicht machen und deshalb auch keine Ziele für eine etwaige zweite Amtszeit nennen. Ein paar Dinge verrät er dann aber doch. Die Schulen will er autonomer machen. Wirtschaftswachstum will er stärker vom Naturverbrauch entkoppeln. Ansonsten aber blieben die großen Überschriften, sagt der Chef der grün-roten Koalition. Es gehe darum, angestoßene Dinge zu festigen. Die Windkraft zum Beispiel, deren Umsetzung er sich einfacher vorgestellt hat.

Das Thema Stuttgart 21 wird ihn noch in dieser Wahlperiode beschäftigen. Dass auf den Fildern mit der aktuellen Planung ein Nadelöhr für den Bahnverkehr entsteht, hält er zwar für bedauerlich, sieht aber keinen Grund, deshalb Geld zuzuschießen. Die Bahn als Bauherr habe behauptet, dass ihre Lösung funktioniert, argumentiert er. Wenn das nun nicht der Fall sei, müsse die Bahn eben nachlegen. Da spricht dann nicht der Philosoph, auch nicht der Prediger, sondern der kalte Polit-Pokerer. Auch auf diese Disziplin versteht sich Kretschmann.