Der Oberpragmatiker unter den Grünen: Winfried Kretschmann Foto: dpa

Ministerpräsident Winfried Kretschmann mag eigentlich keine Talkshows – nur die Fernsehrunden, in denen er ausreden darf. So wie bei Sandra Maischberger am Mittwochabend. Eine gute Gelegenheit, sich fast ungestört als Politiker der Mitte zu präsentieren.

Stuttgart - Es gehört für einen Volksvertreter zu den höchsten Weihen im Talkgeschäft, sich ganz allein den Fragen des Gastgebers zu stellen. Wer sich nicht stören lassen muss von Mitdiskutanten, der hat es geschafft. Insofern ist Winfried Kretschmann fast ganz oben angekommen. Sandra Maischberger (ARD) hat ihm immerhin eine halbe Stunde reserviert, bevor sich der Linksabbieger Jakob Augstein und die Schwaben-Versteherin Maren Kroymann hinzugesellen.

Kretschmann gehört zwar zu den beliebtesten Politikern der Republik, ist aber vielen Menschen außerhalb Baden-Württembergs immer noch ein Rätsel. Es aufzulösen, versucht Maischberger mal mit oberflächlichen, mal mit nachdenklichen Fragen. „VfB Stuttgart oder SC Freiburg?“, lautet eine. Die Antwort kommt ohne Nachdenken: „VfB Stuttgart“. Der Unterschied mag für Hamburger oder Berliner freilich gering sein. Immerhin: Da das Studio von Claqueuren freigehalten wird, erweist sich das Format (am Mittwochabend leider zu sehr später Stunde) als wohltuendes Gegenkonzept zum üblichen Talkshow-Schwall.

Kein Satz mit Ecken und Kanten

Diesen Vorteil weiß einer wie Kretschmann sehr zu schätzen. Der Ministerpräsident meidet alle Fernsehrunden, in denen er bei seinen bedächtigen Antworten ständig unterbrochen würde – vor allem die Talksendungen von Anne Will und Maybrit Illner. Bei „Beckmann“ war er früher wenige Male, aber der Politiker-Flüsterer hat bekanntlich ausgedient. Sandra Maischberger ist nicht weniger freundlich zu ihren Gästen, hakt aber intensiver nach. Dennoch ist Kretschmann auch für sie schwer zu fassen. Er lässt sich praktisch keinen Satz mit Ecken und Kanten entlocken – keine Aussage, die seine Grünen erneut auf die Palme treiben würde. Ein Pragmatiker, wie er im Buche steht. Ausgleichend bis zur Langeweile.

Jakob Augstein (warum gerade er?) provoziert zwar nach Kräften: Kretschmann sei gar kein echter Grüner. „Was Sie machen wollen, ist CDU plus Krötenwanderung.“ Eine „Partei für Wohlhabende mit gutem ökologischen Gewissen“. Das sei in Ordnung, aber dann solle er es auch sagen. Deutschland brauche Visionäre, keinen „obersten Sachbearbeiter“. Zudem sei er ein „schwäbisches Schlitzohr“, der dem linken Flügel hin und wieder gezielte Stiche verpasse. Kretschmann lässt all die Vorwürfe ruhig an sich abperlen („Ich bin durch und durch ein grüner Politiker“), tut aber auch wenig, um sie zu entkräften.

Frühe Werbung für zweistufige Klospülung

Abgesehen von der Anekdote, dass der Grüne 1981 die zweistufige Klosettspülung erfolgreich vorangetrieben hat, muss Kretschmann-Kennern vieles bekannt vorkommen: seine Internatphase mitsamt der vielen Schläge und seine kommunistischen Verirrungen während der Studienzeit, aber auch sein aktuelles Faible für die Kanzlerin: Mit Angela Merkel hatte er Ende August eine vierstündige Unterredung, nun lobt er deren (Flüchtlings-)Politik noch vehementer als vorher. Sehr gut fände er es, wenn Merkel 2017 erneut zur Wahl antritt. Hofft er insgeheim doch darauf, Bundespräsident zu werden – als Vorbote einer schwarz-grünen Koalition im Bund? „Ich strebe dieses Amt nicht an“, bekräftigt Kretschmann sein Mantra. Welche Ambitionen auch immer der 68-Jährige hat, ins Schloss Bellevue zu gelangen – die Spekulationen ehren ihn ungemein. Warum sie also austreten?

Schwäbische Landeskunde fürs Fernsehvolk

Gen Ende des Talks löst sich mit dem Auftritt von „Nachtschwester Kroymann“ alles Widerborstige rasch in Wohlgefallen auf. Denn die Kabarettistin mit Tübinger Kindheit findet erst einmal, dass Kretschmann „echt gut“ aussieht und dass sein Äußeres gut zu dem passe, was er sage. Wenigstens hält sie ihre Feststellung aufrecht, dass er nicht charmant und nicht einnehmend sei. Vielmehr sei er ein Bruddler – „tendenziell ungnädig“. Fortan wird dem Fernsehvolk erklärt, was mit „Bruddler“ gemeint ist. Schwäbisch für Anfänger sozusagen.

Derweil doziert die Hauptperson, dass die Schwaben „hälinge“ (hälenga) seien, dass sie also nicht alles wie eine Monstranz vor sich hertragen: sei es ihren Reichtum, sei es ihre sexuelle Orientierung. So kann er sich noch irgendwie herauswinden, als er seinen Satz von der klassischen Ehe als bevorzugter Lebensform der Menschen rechtfertigen soll, der bei den Grünen so übel aufstieß. Zu diesem Zweck führt er auch den Protest gegen Stuttgart 21 an. Dieser sei ein gutes Beispiel dafür, „dass wir Schwaben nicht so verhockt sind“. Im Gegenteil: „Wir sind doch sehr liberal.“