William Forsythe in der Installation „The Fact of Matter“ (2009). Foto: Dominik Mentzos

1984 ging William Forsythe von Stuttgart nach Frankfurt – und war nicht mehr nur Tänzer und Choreograf, sondern auch Ballettdirektor. Jetzt steht der Amerikaner wieder an einem Wendepunkt in seiner Karriere und zeigt in einer Ausstellung in Frankfurt, wie der Tanz die Kunst neu sehen lehrt.

Frankfurt - „Junge Künstler von heute müssen nicht länger sagen: ,Ich bin Maler‘ oder ,Dichter‘ oder ,Tänzer‘. Sie sind schlicht ,Künstler‘.“ Allan Kapprow wischte schon 1958 alle Grenzen beiseite. Der Pionier der Performance-Kunst hätte seine helle Freude an William Forsythe. Denn der US-Amerikaner, der 1973 als Tänzer nach Stuttgart kam, trieb als Choreograf das klassische Ballett in Grenzbereiche. Seine Bewegungsanalysen waren so umfassend, dass er mit seiner Arbeit schon bald ein Publikum jenseits der Tanzbühnen ansprach. So waren Forsythes Installationen, die sich ihrem Betrachter erst in der Bewegung erschließen, in den vergangenen Jahren immer häufiger im Kunstkontext zu erleben.

Da scheint es konsequent, dass ihm nun das Museum für Moderne Kunst in Frankfurt (MMK) das ganze Haus überlässt. Frankfurt war schließlich der Ort, von dem aus Forsythe von 1984 an das Ballett neu dachte, auch wenn sein Ensemble hier 2004 weggespart wurde und sich mit einem zweiten Standort in Dresden neu formieren musste. Nach dem Rückzug des 65-Jährigen vor einem Jahr ist The Forsythe Company Geschichte – und der richtige Zeitpunkt für den Choreografen da, um sich neu zu positionieren: als Künstler ganz im Sinne Kapprows.

Forsythe ist Performer, der Hans Holleins postmodernen Museumsbau neu entdecken lässt, indem er seine choreografischen Objekte in Beziehung dazu setzt. Und er ist Grenzgänger, der den MMK-Kuratoren neue Erfahrungen mit der eigenen Sammlung ermöglicht, indem er 30 Werke auswählte und im Dialog mit den eigenen Installationen zeigt. Das Resultat ist, wie MMK-Chefin Susanne Gaensheimer die Ausstellung „The Fact of Matter“ beschreibt, „ein programmatischer Blick auf die Bedeutung von Choreografie für die moderne Kunst“.

Am eigenen Leib kann man erfahren, was Forsythes Bewegungsqualität ausmacht

Forsythe bedankt sich für das Vertrauen, indem er die Schau mit einem „Super-Instagram-Moment“ eröffnet, wie er selbst seine Videowand „City of Abstracts“ kommentiert. Vor 15 Jahren konzipierte er das monumentale Display für den öffentlichen Raum, nun macht es den Ausstellungsraum zum Platz. Am eigenen Leib kann man hier erfahren, was Forsythes Bewegungsqualität ausmacht: Eine Kamera erfasst den Passanten, zeitverzögert werden seine Bewegungen manipuliert und wellenförmig fortgesetzt. Bei einem Rundgang im MMK formuliert der Choreograf die Idee, die allen seinen Arbeiten zugrunde liegt: Denken, Erkenntnis ist ein Vorgang, der mit Neugierde sowie mit innerer und äußerer Mobilität zu tun hat – „wenn Sie wissen wollen, wie es funktioniert, müssen Sie sich bewegen!“

Kaum in Bewegung sind allerdings die beiden Tänzer, die Forsythe 2013 für das Video „Stellenstellen“ zu maximalem Körperkontakt mit dem Partner aufforderte. Die geschrumpfte Distanz zwingt die beiden zu Verknäuelungen am Boden. Zugespitzt findet sich diese Komprimierung auch in der kleinen Skulptur im selben Raum, für die Jens Risch einen 1000 Meter langen Seidenfaden so oft verknotete, bis er ein schwammähnliches Gebilde war. Im Dialog mit dem Tanz gewinnt die Zeit des Machens, mehrere Jahre knotete Risch, in der Kunst neuen Stellenwert – und so ist doch wieder alles in Bewegung.

Forsythe ermuntert den Betrachter, Räume an Ringen zu durchqueren, ohne den Boden zu berühren („The Fact of Matter“, 2009), sich in enge Zwischenräume zu drängen („A Volume, within which it is not Possible for Certain Classes of Action to Arise“), ein Finger-Ballett aufzuführen („Instructions“), mit Senkbleien zu tanzen („Nowhere and Everywhere at the Same Time“, alle 2015). Und immer geht es darum, die Tatsache des Materiellen, die der Ausstellungstitel benennt, zu spüren und die Grenzen des Körpers auszuloten, sein Gewicht, seine einzelnen Teile, wie es ja auch Forsythes Choreografien kunstvoll tun.

In einigen Arbeiten geht es um die Organisation und Erfahrung von Raum

Spannend ist aber auch der Blick, den Forsythe durch den Umweg über die Kunst anderer auf das eigene Werk wirft – so erforscht er die Sammlung des MMK, die er bestens kennt, nach formalen und inhaltlichen Korrespondenzen mit dem Tanz. Cy Twomblys Linien sind wie der Tänzer im Raum Sinneseindrücke ihrer Realisierung. Dass der Tanz flüchtig wie das Leben ist, wird in Teresa Margolles Rauminstallation „Aire“ deutlich, die Wasser, mit denen Leichen gewaschen wurden, zu Atemluft macht. „Das ist wie ein Pas de deux, bei dem man die Toten wieder mit ins Leben trägt“, sagt Forsythe.

Viele der ausgewählten Arbeiten erinnern an die künstlerische Atmosphäre, in der Forsythe in den USA seine Karriere als Tänzer begann. Es war die Zeit, in der sich die Grenze zwischen Kunst und Leben verwischte, in der sich der Objektcharakter des Kunstwerks auflöste, wie Ikonen der Minimal Art zeigen – Richard Serras Video „Hand Catching Lead“ oder Bruce Naumans Lippenstudie „Lip Sync“.

Um die Organisation und Erfahrung von Raum geht es in anderen Arbeiten, in Rosemarie Trockels Video „Parade“ oder in Ai Weiweis Vasenchoreografie „Ghost Gu Coming Down the Mountain“. William Forsythe macht noch einmal die körperliche Präsenz zum Ausgangspunkt – eine Erfahrung, die eine digitalisierte Welt zunehmend infrage stellt.