Schulleiterin Maria Waltner und Regionalleiter Thomas Kuhn vor dem vor 175 Jahren eingeweihten Hauptgebäude. Foto: Sabine Schwieder

Vor 175 Jahren wurde in Plieningen ein Zufluchtsort für verwahrloste Kinder gegründet: die Wilhelmspflege. Noch heute unterstützt die Stiftung Jugendhilfe aktiv Familien mit Bedarf an Erziehungshilfe.

Plieningen - Das prächtige Gebäude an der Bernhauser Straße mit den altertümlichen Buchstaben „Wilhelmspflege“ über dem Eingang verweist auf eine Zeit, in der ein Kinderheim noch „Rettungshaus“ genannt wurde. Gegründet als Zufluchtsort für verwahrloste Kinder erfüllt das Gebäude heute, 175 Jahre nach seiner Einweihung, immer noch seinen Zweck. Hier hat die Stiftung Jugendhilfe aktiv, die in ganz Stuttgart und darüber hinaus Familien mit Erziehungshilfebedarf unterstützt, ihr pädagogisches und organisatorisches Zentrum.

Die aus der Wilhelmspflege und der Paulinenpflege entstandene Stiftung betreut Jugendliche in Wohngruppen oder in ihren Herkunftsfamilien und unterhält mit der benachbarten Dietrich-Bonhoeffer-Schule eine Bildungseinrichtung für Kinder mit besonderem Förderbedarf. Mit einem Festakt in der Schule wird die Wilhelmspflege am Donnerstag, 24. November, das 175-jährige Bestehen feiern.

Eigentlich müsste die Wilhelmspflege einen anderen Namen tragen. Den Grundstock legte nämlich die württembergische Königin Katharina mit ihrem 1817 gegründeten Wohltätigkeitsverein. Nach dem frühen Tod der aus Russland stammenden Adeligen im Jahr 1819 wurde ein Fond eingerichtet, der bis zum Jahr 1828 auf 2300 Gulden anwuchs. Dies wurde die Grundlage der Wilhelmspflege. Anlässlich seines 25-jährigen Thronjubiläums gab der König im Oktober 1841 der Einrichtung ihren Namen.

Ein Internat ist die Wilhelmspflege nicht

Das damals „Rettungshaus Wilhelmspflege“ genannte Gebäude beherbergt seit 2006 die zentrale Verwaltung und den Vorstand der Stiftung Jugendhilfe aktiv, die in der Evangelischen Diakonie verankert ist. Die Plieninger Einrichtung ist eins von drei Stammhäusern, die beiden anderen sind in Rohr (Paulinenpflege) und in Esslingen (Theodor-Rothschild-Haus) angesiedelt.

„Bei den Plieningern wird das Haus immer noch Kinder- oder Schulheim genannt“, erzählt Thomas Kuhn, Regionalleiter der Stiftung. Ein Internat ist die Wilhelmspflege jedoch nicht: von insgesamt 13 Wohngruppen sind nur noch drei auf dem Gelände untergebracht, die übrigen verteilen sich auf die gesamte Region Stuttgart. Da gibt es Gruppen nur für Mädchen, Gruppen für junge Flüchtlinge oder Betreutes Wohnen für ältere Jugendliche. Daneben gibt es die teilstationäre Hilfe, bei der die Kinder tagsüber in Gruppen betreut werden, und die ambulante sozialpädagogische Hilfe, bei der Mitarbeiter die Familien zu Hause besuchen.

An der Dietrich-Bonhoeffer-Schule, einer Schule für Erziehungshilfe, gibt es eine Vielzahl von Bildungsangeboten, vom Sonderschulkindergarten über die Grund-, Werkreal- oder Förderschule bis hin zu Lerngruppen für Kinder mit autistischen Verhaltensweisen. Derzeit gehören insgesamt 270 Schüler und 13 Kindergartenkinder dazu. Doch nicht alles findet auf dem Gelände an der Bernhauser Straße statt: an dezentralen Standorten in der Region werden Kinder in kleinen Gruppen oder inklusiv an Regelschulen unterrichtet.

„Das Lernen“, so sagt Schulleiterin Maria Waltner, „kann in diesen Fällen nur über die Beziehung zu den Lehrkräften in Gang gesetzt werden.“ Allen Kindern gemeinsam ist, dass sie in ihrer Entwicklung verzögert sind. „In sozialer, emotionaler, aber auch in kognitiver Hinsicht“, erläutert Regionalleiter Thomas Kuhn. Oft fehlt in den Familien jegliche Struktur, die Kinder wachsen, wie die Mitarbeiter es nennen, „etwas naturbelassen“ auf. In den Gruppen können die Kinder erleben, wie eine Familie funktionieren sollte. „Es geht um so viel Normalität wie möglich“, beschreibt Kuhn die Arbeitsweise.

Scheitern gehört zu diesem Beruf dazu

Sein Eindruck nach rund 30 Jahren Berufserfahrung ist, dass die Zahl der auffälligen Kinder zugenommen hat, dass Familien durch Scheidung oder Alkoholismus leichter aus der Bahn geworfen werden können. Dann vermittelt das Jugendamt den Kontakt zu Hilfseinrichtungen wie der Wilhelmspflege. „Die Eltern selbst sind nicht in der Lage, sich zu kümmern. Das Kind bekommt nicht die Aufmerksamkeit und Liebe, die es braucht“, sagt Kuhn, „auch, wenn die Eltern das wollen.“

„Es fehlt ihnen das Know-how“, bestätigt Maria Waltner. Die Schulleiterin betont gleichzeitig, dass die Wertschätzung gegenüber den Familien absolute Grundlage für eine erfolgreiche Elternarbeit sei, wenn das auch nicht immer leicht falle. Es gibt Betreuer unter den rund 200 Mitarbeitern, die nur schwer mit ansehen können, wenn zu Hause schlecht behandelte Kinder ihren Eltern gegenüber loyal bleiben. Die darunter leiden, wenn Eltern die Mitarbeit komplett verweigern. „Wir müssen unsere Teams schulen, das dann zu akzeptieren“, sagt Kuhn, „das Scheitern gehört zu diesem Beruf dazu.“

Ob Jugendhilfe, ob Schule: „Alle Bemühungen gehen dahin, dass wir uns überflüssig machen“, beschreibt Kuhn die Philosophie der Stiftung. Es gehe darum, dass Eltern wieder die Verantwortung für die Erziehung ihrer Kinder übernehmen und dass die Kinder fit gemacht werden für die Regelschule.

Der Erfolg, so sagen die beiden Leiter übereinstimmend, zeigt sich dann, wenn die Schützlinge die Einrichtung wieder verlassen. „Denn die Kinder“, so sagt Thomas Kuhn, „ haben immer einen feinen Kern. Ich glaube fest daran, dass wir etwas für sie bewirken können.“

Festakt
Die Stiftung Jugendhilfe aktiv feiert am Donnerstag, 24. November, von 9.45 bis 13 Uhr das 175-jährige Bestehen der Wilhelmspflege mit einem Festakt in der Turnhalle der Dietrich-Bonhoeffer-Schule an der Bernhauser Straße 24.