Dreimal kamen die Viehdiebe schon zu Rinderzüchter Volker Naschke. Jeder Diebstahl ist für ihn eine kleine Katastrophe. Foto: Katja Bauer

Kriminelle stehlen an der polnischen Grenze ganze Rinderherden – die Bauern bringt das an den Rand ihrer Existenz. Die Polizei vermutet organisierte Banden aus Osteuropa. Ein Besuch bei einem Rinderzüchter.

Schenkendöbern - Früh am Morgen war Naschke schon mal hier, wie jeden Tag. Um halb sieben wird gefüttert. Jetzt im Sommer steht die Sonne dann schon über der Koppel und den beiden Ställen am Waldrand. Die Weide liegt weit weg vom Hof bei Schenkendöbern in einer Niederung, einsam, ruhig, wunderschön. Zur Grenze nach Polen sind es fünf Minuten. Hierher kommt kein Mensch zufällig.

Volker Naschke schaut jetzt noch einmal kurz vorbei, lieber einmal mehr als einmal weniger. Obwohl gerade viel zu tun ist, Erntezeit. Das Heu trocknet gerade, Regen liegt in der Luft. Es riecht nach sonnenwarmem Waldboden, wie Zuckerwatte zieht die Hitze erste Wolkenschlieren über den hellen Sommerhimmel. Er steigt vom Trecker und geht langsam zum Stall. Die Tiere sind leicht irritierbar. Allesamt Bullen, jung, wild, kräftig. „Ruuuuhig“, sagt der Bauer, streckt die offene Hand aus.

Nummer drei von links hat eine klatschnasse Schnauze, an der ein paar Körner kleben. Er schnaubt ein bisschen, wackelt mit den Ohrmarken und stupst gegen die Hand. „Eine ganz interessante Linie“, sagt Naschke ziemlich leise. Das ist wohl brandenburgisch-bescheiden für berstenden Züchterstolz.

Kleiner Bulle mit nasser Schnauze

Der kleine Bulle ist kein Jahr alt, deshalb hat er noch keinen Namen. Aber das Rennen um ihn ist eröffnet. Schon jetzt gibt es Bauern, die ihn später kaufen wollen.

Wenn Naschke Glück hat. Wenn nicht, dann ist das Tier weg. Weil die Viehdiebe wieder zuschlagen, wie schon dreimal zuvor. „Dass sie wiederkommen, ist klar“, sagt Naschke. „Die Frage ist doch nur, wann. Und ob die Polizei irgendwann mal jemanden erwischt.“

Es ist eine Plage: Entlang der Ostgrenze zu Polen geht es zu wie im Wilden Westen. Diebe stehlen den Bauern ihr Vieh. Allein dieses Jahr wurden in Brandenburg 310 Rinder gestohlen, das sind mehr als doppelt so viele wie im Jahr zuvor.

Dass hier keine Fleischdiebe am Werk sind, die mal eben unter der Hand ein Rind schlachten wollen, ist klar. Die Sache hat so erkennbar System, dass die Polizei inzwischen von professionellen Banden ausgeht: Gestohlen werden ausschließlich Rinder, wertvolle Zuchttiere und ganze Herden. Im Januar verschwanden 37 Kühe aus einer Herde in Lieskau, kurz drauf wurden 30 aus einem Betrieb in Jänschwalde gestohlen, in Terpt waren es 32.

Die Viehdiebe haben einen Plan

„Dazu muss man sich auskennen, und man muss einen Plan haben“, sagt Sebastian Scholze vom Landesbauernverband. Wer hier stiehlt, kümmert sich vorher um die Logistik. Die betroffenen Höfe liegen alle nah an der Grenze, in wenigen Minuten erreicht man eine der Grenzbrücken oder die Autobahn. Die Ställe sind zur Koppel hin offen, die Tiere können frei laufen. Für Herden braucht man Transporter und ein Gatter, um die Rinder hineinzutreiben.

Und manchmal braucht es auch noch mehr. So wie in Neuzelle, wo im Januar alle vier Zuchtbullen der Genossenschaft über Nacht verschwanden. Sie standen ohne Halfter in Einzelboxen. „Ich würde da nicht ohne Weiteres reingehen“, sagt der Geschäftsführer Frank Matheus. Ein ausgewachsener Zuchtbulle wiegt locker 1200 Kilogramm. „Und der geht ja nicht einfach so mit.“ In Neuzelle rätseln sie immer noch, wie die Diebe die Bullen in den Transporter brachten. Blasrohr, Betäubungsmittel – vielleicht. „Aber da muss einer das Gewicht sehr gut schätzen können, sonst wirkt es entweder nicht oder der Bulle legt sich hin und es kriegt ihn keiner raus.“

Die Täter erbeuteten auch anderes: Medikamente für Zuchtsauen, Ultraschallgeräte zur Untersuchung trächtiger Tiere, einen Weidefangstand. „Sieht für mich aus wie ein sehr gut informierter Auftragsdiebstahl“, sagt Matheus. 200 000 Euro Schaden hat er aus Diebstählen zu beklagen.

Die „Soko Muh“ tappt im Dunkeln

Für die Bauern ist offenkundig, dass die Diebe irgendwoher genaues Wissen über die Tiere bekommen – vermutlich aus Datenbanken. Wertvolle Zuchtrinder erkennt man nicht vom Hinsehen allein, dazu braucht man Zugriff aufs EU-weite Herkunftssicherungs- und Informationssystem oder Wissen aus dem Herdbuch.

Wer zum Täter finden will, der muss herausfinden, wer an die Daten kommt und wer etwas über Rinder weiß. Bisher allerdings sieht es da düster aus. Die Landesregierung hat eine Sonderkommission eingesetzt, um den Tätern auf die Spur zu kommen. Die „Soko Muh“, wie manche die Truppe nennen, arbeitet mit ihren polnischen Kollegen zusammen. Ermittlungserfolge? Null.

Dass die Spur nach Osteuropa führt, glauben alle – die nahe gelegene Grenze ist nur ein Grund dafür. Der andere ist das Meldesystem für die Tiere. Jedes Kälbchen bekommt mit der Geburt seine Ohrmarke und seine Abstammungspapiere. Es wird registriert, in der europaweiten Datenbank wird jeder Kauf und Verkauf von beiden Seiten gemeldet. Ohrmarken kann man entfernen. In Neuzelle lagen sie im Stroh. Aber ohne Abstammungspapiere sei das Tier in der EU praktisch wertlos, sagt Bauernverbandssprecher Scholze. Anders sieht das in der Ukraine oder in Weißrussland aus. Mit den gestohlenen Tieren könne man mühelos neue Herden aufbauen.

Für die Bauern ist das eine Katastrophe

Der reine wirtschaftliche Schaden sieht in den nackten Zahlenreihen der Diebstahlstatistik nicht so schlimm aus wie der vom Autoklau. Aber für die Bauern ereignet sich jedes Mal eine Katastrophe.

Volker Naschke erinnert sich noch genau an den Tag, an dem die Diebe zum ersten Mal bei ihm waren. „Ich kam zum Stall, die Mutterkühe haben gegrölt und waren nicht zu beruhigen.“ Erst konnte er gar nicht einordnen, was er da sah. 13 Kälber fehlten. Sie waren nicht auf der Weide, nicht am Waldrand. Sie waren weg. Naschke rief die Polizei – auch so ein Problem. Seit der Reform im Land Brandenburg gibt es in strukturschwachen Gebieten nur noch wenige Streifen, die Zahl der Polizeiposten ist stark reduziert. Irgendwann mittags kam dann die Spurensicherung. Naschke läuft zur Ablage für die Silage, zeigt auf den Gehwegplatten, wo die Reifenspuren waren. „Ein Kleintransporter“, sagt er. Er stellt sich ungern vor, wie die Kälber da hineinverfrachtet wurden.

„Ich hab in der Zeit danach keine Nacht geschlafen.“ Er stand auf, tigerte herum, fuhr schließlich raus zur Weide. Nacht für Nacht. Wochenlang haben seine Söhne und er sich später abgewechselt, Streife fahren.

Nachts fahren die Bauern Streife

Naschke ist jetzt 58 Jahre alt, aber so wie das hier hat ihn in seinem Berufsleben bisher wenig erschüttert. Er war immer Bauer, immer Rinder. Erst in der LPG im Dorf, dann, in den Wendetagen, hat er sich selbstständig gemacht, mithilfe zweier Wessis. Es ging schief. „Das waren Verbrecher“, sagt er. „Solche, die man nicht zu fassen kriegt.“ Finanziell war er ziemlich angeschlagen damals, und auch das Vertrauen in die Menschen hat ziemlich gelitten. Er hat trotzdem weitergemacht.

Warum? Langer Blick über die Weide. „Ich bin Rinderzüchter.“ Naschke hat sich auf Uckermärker verlegt, eine DDR-Kreuzung aus Charolais und Fleckvieh, erst seit 1992 bundesweit anerkannt, Fleischrinder, selten, hochwertig. Jahre hat er in dieses Unterfangen gesteckt, dazu seine ganze stille Leidenschaft. Nun hat er in der Szene einen Namen. Nicht selten erzielen seine Tiere die höchsten Preise auf den Auktionen. Es gibt Momente, da ist er sehr glücklich. So wie vor ein paar Jahren auf der Grünen Woche in Berlin. „Zu Fanfarenklängen mit dem zweiten Bundessieger in die Halle einzuziehen, das ist schon schön“, sagt Naschke. Oder wenn er abends an der Weide steht, die Tiere beobachtet, die Natur.

Ein Glasfaserkabel auf eigene Rechnung

Es gibt in dieser Sphäre viel, was die Viehversicherung nicht ausgleichen kann. Die nackte Entschädigung ist den Bauern zu gering, die Policen steigen, manchmal kündigt die Versicherung gleich ganz. Was keiner bezahlt: die Lücke in der Zucht. Der Wert des Muttertiers richtet sich nach den Werten des Nachwuchses. Die Kälber, die weg sind, können nicht zu Zuchtbullen werden, es gehen Jahre verloren, Optionen, Pläne. Dazu kommt das Gefühl, als hätte einer ein Stück aus der eigenen Herde herausgerissen. „Es ist eine ganz schöne psychische Belastung“, sagt Naschke.

Das Gefühl, alleingelassen zu werden, kennen die Brandenburger Grenzbauern schon länger. Milch- und Kornpreis waren zuletzt schlecht, in der Grenzregion leiden sie seit Jahren unter Technikdiebstählen. Traktoren, Mähmaschinen, alles verschwindet. Dazu kommt der Wolf, der hier und da ein Kälbchen reißt, und eine Politik, die sich gefühlt sehr um die Wiederansiedlung des Raubtiers kümmert und den Viehdieben ohnmächtig und ratlos gegenübertritt.

Der nächste Raubzug ist eine Frage der Zeit

Was tun? „Die Polizei sagt uns, wir müssen uns selber schützen“, sagt Genossenschaftsmann Matheus. In seinem Großbetrieb investieren sie jetzt ordentlich in eine Videoüberwachungsanlage. Auf dem Gelände werden Glasfaserkabel verlegt, die Kameras sind mit einem Wachschutz verbunden. Kosten: 100 000 Euro. Ob es nützt? Die Genossenschaft hat auch kleine Standorte weitab von Stromversorgung oder Netzempfang.

Fragt man die Bauern, was sie sich wünschen, dann geht es immer um die Grenze. Vielen ist es unverständlich, warum die Brücken nachts nicht kontrolliert werden. „Die fahren rüber und sind weg“, sagt Matheus. „Das kann doch nicht sein.“

Zurzeit herrscht Ruhe. „Wahrscheinlich, weil die selber Bauern sind und viel zu tun haben“, sagt Naschke. „Aber im Herbst kommen die Kälber. Dann kommen auch die Diebe.“