Mann mit Hut: Der Sänger Jeff Tweedy, Frontmann der Band Wilco, beeindruckt mit sanften Tönen ebenso wie mit krachiger Rockmusik. Foto: dpa

Wilco können alles, und immer klingt es wie aus einem Guss. 1200 Fans erlebten bei dem zweistündigen Konzert im Theaterhaus mit der Band um Jeff Tweedy eine wilde Fahrt durch die Welt des Alternative-Rock.

Stuttgart - Es beginnt ruhig, sehr ruhig, die akustische Gitarre spielt ein langsam, scheinbar endlos kreisendes Motiv. Jeff Tweedy singt mit kratziger Stimme. „One Sunday Morning“ heißt der Song, es ist der letzte auf Wilcos aktuellem Album „The Whole Love“ – und der erste ihres Konzerts am Montagabend im Stuttgarter Theaterhaus. Ein Song voll ruhiger Beharrlichkeit, eine Tür hinein in einen Abend der musikalischen Brüche, Überraschungen, Glanzstücke.

„One Sunday Morning“ ist ein ausgedehntes Stück mit seiner minimalistischen Melodie. Sie kehrt wieder und wieder, wird vor den 1200 Zuhörern im großen Saal T 1 im Theaterhaus zu einer Initiation in den Klangkosmos der Band aus Chicago in den kommenden zwei Stunden entfaltet. Nach und nach steigen die Instrumente mit ein, setzt das Piano diskrete Akzente, beginnt der Besen des Schlagzeugs zu kreisen, die E-Gitarre quecksilbrig zu tanzen, der Synthesizer ein silbriges Rieseln in die Melodie zu streuen. Aufgefächerte weiße Strahler gleiten über die Bühne – plötzlich endet die Träumerei: Mit einem Schlag versetzt die Band ihr Publikum in die musikalische Gegenwart, in eine ganz andere Welt aus harten, komplex aufgebauten Rhythmen, kreischenden Gitarren, elektronischen Klangerfindungen.

Klassisches Songwriting, Alternative-Rock, avantgardistischer Pop, Grenzüberschreitungen hin zum Noise, zur Kunst des glorreichen Lärmens, all dies greift hier organisch ineinander. Und wirkt dabei wie eine konsequente Erweiterung von Wilcos Klanguniversum. Spätestens mit „Yankee Hotel Foxtrott“ (2002) fand die 1994 gegründete Band zu einem Stil, der grandios die disparatesten musikalischen Welten unter einen Hut bringt.

Vertrackte Elektrobeats schaffen Postrock-Momente

Der Hut ist aus hellbraunem Filz und sitzt auf dem Kopf des Bandleaders Jeff Tweedy – erst am Schluss des zweistündigen Konzertes wird der Mann mit Bart und Gitarre ihn kurz abnehmen. Hinter ihm ein Bühnenbild aus Samt. Im blauen, roten, violetten Licht nehmen sich die Stoffbahnen aus wie schillernde zerklüftete Gebirge. Vor ihnen, schwebend, abgeschnittene Pyramiden oder Kegel – kopfstehende Lampenschirme? –, viele angestrahlt in weichen Pastelltönen. Eine schlichte, farblich raffinierte Inszenierung, die der Show leuchtende Tiefe gibt.

Wilco selbst, Jeff Tweedy, John Stirratt, Glenn Kotche, Mikael Jorgensen, Nels Cline, Pat Samsone, beherrschen alle Facetten ihrer fragilen, wuchtigen, detailversessenen, krachigen Musik perfekt.

Sie spielen sich an diesem Abend in Stuttgart in große Form. Da kämpfen drei Gitarren gegeneinander an und stellen eine Wand aus tosend lautem Rock’n’Roll auf die Bühne, da fällt dieses fauchende Ungetüm plötzlich wieder zurück und macht einer leisen, vorsichtig instrumentierten Melodie Platz.

Vertrackte Elektrobeats schaffen Postrock-Momente. Eine Steel-Guitar legt sich seufzend auf einen Country-Song. Bei „Via Chicago“, dem ersten Song der Zugabe, singt Jeff Tweedy stoisch emotional sein schlichtes Lied, während eiskalte elektronische Lärmgewitter über ihn hereinbrechen. Das Publikum jubelt.

„Lovely town“, sagt der Amerikaner freundlich, knapp, lakonisch

„The Whole Love“ heißt das aktuelle Album von Wilco, erschienen noch 2011. An jedem Ort ihrer Tournee tritt die Band mit einer anderen Setlist auf die Bühne – in Stuttgart liegt der Schwerpunkt deutlich stärker auf den neuen Stücken als zuvor bei drei Konzerten in Spanien.

Dennoch bieten die 25 Songs einen Überblick über nahezu alle Wilco-Alben – das 1999er-Album „Summertheeth“ ist stark vertreten, „A Ghost Is Born“ von 2004, „Sky Blue Sky“ von 2007, aber auch „Mermaid Avenue“, Wilcos Zusammenarbeit mit Billy Bragg. Nach „California Stars“ von diesem Album fährt kurz das Saallicht hoch, Jeff Tweedy blickt ins Publikum: „Lovely town“, sagt der Amerikaner freundlich, knapp, lakonisch. „Lots of stairs. I like stairs“ – und damit, scherzt er, seien seine Deutschkenntnisse auch schon erschöpft.

Mit „Monday“ und „Outtaside“ vom Album „Being There“ und „HooDoo Voodoo“ von „Mermaid Avenue“ steigern sich die Klangtüftler und Country-Rocker in ein frenetisches Finale. Und ja: Wilcos Gitarren können ach so schmutzig klingen. Auf und ab ging es an diesem Abend, leise Töne, laute Töne – zuletzt aber keine Besinnlichkeit, sondern kantige Rockmusik, ein tanzender Percussion-Spieler, wild-virtuoses Gitarrengefrickel. Ein musikalisches Feuerwerk.