Ein Stück Normalität: zwei Frauen halten ein Schwätzchen im neu eröffneten Lebensmittelelladen. Foto: Gottfried Stoppel

Vor neun Monaten fiel eine Sturzflut mit unvorstellbarer Zerstörungskraft über Braunsbach ein. Wie hat sich der 1000-Einwohner-Ort verändert? Die Geschichte einer Katastrophe. Teil 3: der Neuanfang

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Braunsbach - Auberginen, Hefe, Sonnenspray, Marlboro, Stuttgarter Zeitung, Kernseife, Eierlikör.

„Gudda Morga, schön, dass ihr wieder da seid. Zwei Mohnweckle und oi Bretzel, bitte.“

Mottenpapier, Lemberger Weiß, haltbarer Schmand, fettarmer Kefir, Hochzeitsnudeln, Abate-Fetel-Birnen.

„Hallo, schee isch’s worra, wirklich. I komm nochher noch mal her.“

Berliner, gekochte Ripple, Schwarzwurzeln, Salzstangen, „Lassiter“-Groschenwestern, Limetten, Dinkelbrot, Espresso.

„Toll sieht alles aus. Zu was so a Flut alles gut isch, gell? Erdbeer-Gsälz brücht i no.“

Levi, Emily und die anderen Goldkehlchen vom Braunsbacher Kindergarten haben ein Lied eingeübt: „Zur Eröffnung im Schwaa-haarz, zur Eröffnung viel Glück.“

Es geht wieder los nach neun Monaten Stillstand. „Frau Wolf, was suchet Se denn? – „Oier.“ – „Die send ganz vorna.“ Kein Braunsbacher lässt sich dieses Großereignis entgehen, und jeder hat unwillkürlich ein Lächeln im Gesicht, sobald er eintritt. „Frau Schwarz, i hab Ihne was gmacht.“ Ein Kunde übergibt feierlich ein Kärtle, darauf steht: „Wir sind froh und dankbar, dass wir Sie wiederhaben.“ Noch müssen sich die Verkäuferinnen an die Wurstschneidemaschine gewöhnen, die Waage, die neue Kasse, an die Preise: Die Butterbrezeln im Café sind jetzt 20 Cent teurer. Sonst läuft alles prima. Bürgermeister Frank Harsch ist ergriffen: „Es ist großartig geworden. Ein Stück Leben ist zurück.“

800 000 Euro Schaden

Modern ist er geworden, der neue Laden. Dezenter Rauputz, die Regale ein Dialog von Eiche und Metall, LED-Lichter: über der Fleischtheke etwas rötlich, damit es appetitlicher aussieht. Die Leibchen der Verkäuferinnen grafitfarben wie der Boden aus Keramikfliesen, die lindgrünen Schürzen passend zu den Servietten. „Wir wollten was Frisches nach der dunklen Zeit“, sagt Katja Schwarz. Das Ladencafé ist jetzt doppelt so groß. Wo früher das Lager war, stehen gemütliche Sitzgruppen. Künftig herrscht kein Platzmangel, wenn morgens die 15-köpfige Frauenturngruppe anrückt.

Mit der Gebäudeversicherung lief alles reibungslos. Beim Inventar gab’s viele Sachen, für die keine Rechnung vorlag. So hing die Sache lange in der Luft. Viermal verhandelte man am Küchentisch mit dem Versicherungsagenten. Fazit: Den Schaden von insgesamt gut 800 000 Euro bekommt Schwarz wohl nicht komplett erstattet.

Der alleinstehende Nachbar ist wieder in sein Haus gezogen, das die Flut bis in den ersten Stock hinauf eingenässt hatte. Er fand Obdach in der kleinen Wohnung, die eigentlich Nico Schwarz nutzt. Der schlief in der Zeit auf dem Wohnzimmersofa, verzichtete auf ein eigenes Zimmer und ließ sich für ein halbes Jahr noch einmal in die elterliche Nestwärme fallen.

In den ersten Wochen nach dem Unglück war Braunsbach noch dynamisch, jeder hatte was zu schaffen, jeder was zu erzählen. Dann wurde es kälter. Was draußen getan werden konnte, war getan. Und innen stockten die meisten Arbeiten. Im Herbst verwandelte sich Braunsbach in eine Geisterstadt. Kein Leben mehr, keine Lichter in den leeren Wohnungen, keine Straßenbeleuchtung. „Schon beängstigend manchmal“, sagt Peter Schwarz. Bei einigen schlich sich, nachdem die Anfangsenergie aufgebraucht war, eine Depression ein.

Der ewige Dreck

Irgendwann hatten alle die Schnauze voll von Schutt und Schlamm. Vom ewigen Dreck, der bis in die kleinsten Winkel, selbst unter Silikonfugen schlüpfte. Autos, die im Wasser gestanden hatten, gingen Wochen danach kaputt – mit Sand im Getriebe. Als Familie Schwarz sich mal eine der Sektflaschen aufmachte, die in der Flut gelegen hatten und nicht mehr verkäuflich waren, fanden sie Sandschlieren innen am Korken.

Die Ruhe nach dem Sturm: „Wir wurden von Tempo 100 auf 30 runtergebremst. Am Ende des Tages hat mir oft das Gefühl gefehlt, etwas geschafft zu haben“, sagt Katja Schwarz. Etwas lose ins Leben geworfen habe sie sich gefühlt. Ihr Mann ging irgendwann wieder zur Arbeit, der war wenigstens halbtags aufgeräumt. „Es gab Tage, da fragte ich mich morgens: Was machsch jetzt heut?“ Und manchmal erwischte sie sich beim Gedanken: „So könnt’s grad weitergehen.“ In den Tag hinein leben, abends mit den Nachbarn und den Feuerwehrfreunden zusammensitzen. Aber als es dann losging mit der neuen Ladeneinrichtung, war sie gleich wieder voll drin.

Es sieht wohl so aus, dass es keinen gibt im Ort, der nicht mehr hochkommen oder alleingelassen wird. Fünf Häuser sind abgerissen. In drei Fällen verhandeln Besitzer noch mit Versicherungen. Einer will sein Eigenheim am liebsten weghaben, ein anderer es unter allen Umständen behalten.

Familie Dichtl befindet sich seit neun Monaten in einem Zwischenzustand. Bis zum 29. Mai 2016 wohnen Norbert Dichtl, 52, und seine Frau Anja, 53, mit ihren zwei Töchtern, dem Schwiegersohn und den beiden kleinen Enkeln in der Orlacher Straße 21. Dann kommt die Sturzflut.

Dichtls Haus ist unbewohnbar

An jenem Sonntag machen die Dichtls einen Ausflug. Auf dem Rückweg werden sie in Orlach gestoppt: „Da könnt ihr nicht runterfahren, da ist keine Straße mehr.“ Sie versuchen, ihre 24-jährige Tochter zu erreichen, die als Einzige zu Hause ist. Keine Handyverbindung. Sie erleben eine Horrornacht in der Ilshofener Arena. Dort trudeln nach und nach alle Geretteten ein. Doch keine Tochter weit und breit. Als sie dann doch noch aus einem Rotkreuzauto steigt, graut schon der Morgen.

Dass sie lebt, mildert das Entsetzen, als sie dann das Haus sehen. 17 Jahre Arbeit haben sie in ihr Heim gesteckt, in 17 Jahren das alte, denkmalgeschützte Gebäude von Grund auf hergerichtet. „Es war unsere Alterssicherung, unser Lebenswerk“, sagt Norbert Dichtl. Jetzt ist es zerstört.

In den ersten Wochen kommen sie gar nicht rein. Im Keller sind 3000 Liter Heizöl ausgelaufen, der Boden wird bis in vier Meter Tiefe abgetragen und als Sondermüll entsorgt. Die Dichtls müssen sich erst einmal Schuhe kaufen, Kleider, Unterwäsche, Zahnbürsten. Sie werden auseinandergerissen, kommen bei Verwandten, Freunden und Arbeitskollegen unter.

Die Haussanierung droht eine langwierige Sache zu werden. Sie wollen wieder zusammen unter ein Dach. „Aber bewerben Sie sich mal als siebenköpfige Großfamilie um eine Wohnung. Da gelten Sie schnell als asozial“, sagt Anja Dichtl. Ein Makler macht ihnen das ohne Umschweife klar.

Der Druck hat noch nicht abgenommen

Nach monatelanger Suche wird im Geislinger Pfarrhaus eine Wohnung frei. Diesmal haben sie Glück. Jetzt leben die Dichtls vier Kilometer von ihrem alten Haus entfernt, besuchen es an Wochenenden wie ein krankes Familienmitglied. Es tut weh.

Der Boden im Erdgeschoss ist nur noch blanke Erde, das Parkett im Obergeschoss hat sich zu einer Buckelpiste aufgeschoben. In den Wänden sitzt der Schimmel. „Das ist alles von Grund auf feucht, und mit jedem verlorenen Tag wird es schlimmer“, sagt Anja Dichtl. Die Zeit drängt, aber alles zieht sich unendlich in die Länge. Die Versicherung hat knapp 200 000 Euro für die Sanierung angeboten. „Unser Architekt sagt, das Doppelte wäre nötig, damit es Hand und Fuß hat. Wir wollen kein Flickwerk, wir wollen leben ohne ständige Sorge, wie lange es wohl hält.“ Sie haben bei der Versicherung jetzt eine Gegenaufstellung eingereicht. Mal sehen, wie es endet. „Aber schnell geht es bestimmt nicht.“

Bürgermeister Harsch wirkt neun Monate nach der Flut noch dünner, als er eh schon war. Der Druck hat nie abgenommen. „Und ein Durchatmen ist nicht absehbar.“ Weil ja bisher alles nur provisorisch ausgebessert ist, versinkt Braunsbach bald wieder in einer riesigen Baustelle. Im März wird die ganze Hauptstraße aufgerissen, um neue Leitungen zu verlegen für Wasser, Abwasser, Strom, Breitbandkabel und öffentliche Nahwärme aus einem neu geplanten Bio-Heizkraftwerk. „Das volle Programm“, sagt Frank Harsch.

„Da steckt noch viel Dreck in der Klinge“

100 Millionen Euro Gesamtschaden hat die Flut angerichtet. 1,5 Millionen Spenden sind eingegangen. So habe man die Härtefälle abgefedert, bei denen keine Versicherung griff oder gar keine existierte, sagt Harsch. 130 Hilfsanträge wurden gestellt, dabei ging es um Beträge zwischen 500 und 500 000 Euro. Eine Million aus der Spendenkasse ist ausbezahlt, der Rest wird zurückbehalten, bis klar ist, wie sich Hängepartien wie bei den Dichtls entwickeln. Für Schäden an der Infrastruktur hat das Land zunächst 10 Millionen Euro überwiesen. Eine weitere Förderung ist schon bewilligt. Die öffentliche Hilfe sei vorbildlich, sagt Harsch. „Mehr kann man nicht machen.“

Geröllfänger wurden in die Bäche gestellt, Dämme gebaut, um ein gewisses Sicherheitsgefühl zu schaffen. Aber jeder im Ort wartet mit Unbehagen auf den ersten Starkregen nach der Katastrophe. Daran ändern auch die Wetterexperten nichts, die alle betonen, wie unwahrscheinlich eine erneute Flut ist. „Da steckt immer noch viel Dreck in der Klinge“, sagt Frank Harsch. „Das muss nachhaltig geräumt und gesichert werden, das braucht Zeit, das braucht Experten aus Österreich oder der Schweiz. Das ist ein Millionenprojekt.“

Die Landesstraße nach Orlach bleibt noch bis Oktober gesperrt. Die Endzeitlandschaft am Ortseingang, wo das ganze Schwemmholz lag, ist weggehäckselt. Eine Spezialfirma war dort vier Monate lang am Werk. 50 000 Tonnen Geröll wurden aus dem Ort geschafft. 120 Autos verschrottet. Für seinen weggespülten VW Golf hat Bürgermeister Harsch den Restwert bekommen, viel war’s nicht. Jetzt fährt er im gebrauchten Tiguan zur Grundschule.

Visionäre und Bewahrer

50 Leute sind gekommen an diesem Abend. Die Gruppe Tourismus, Gastro, Kultur, einer von neun Arbeitskreisen, stellt ihre Ideen für ein neues Braunsbach vor. Den Titel „staatlich anerkannter Erholungsort“ könne man zum Beispiel noch offensiver vermarkten. Denkbar sei auch ein neuer Slogan: „Weltoffen im Kochertal“ statt wie bisher „Perle im Kochertal“ – „Perle isch besser“, meint ein Zuhörer. Auf dem Rabbinerplatz könne man einen biblischen Garten anlegen – nur mit Pflanzen, die in der Heiligen Schrift vorkommen. In die Ortsmitte gehörten freies WLAN, Tische und Bänke für vespernde Radler, eine Stromtankstelle, ein Schuhputzautomat, eine Litfaßsäule mit Veranstaltungstipps. Ein Zuhörer sagt: „Wer Touristen will, muss was ganz Banales haben: Parkplätze.“

Die Burgenlandhalle ist ein Streitthema. Die Versicherung bezahlt die Sanierung. Für einen Neubau kommt sie nicht auf, den müsste die Gemeinde selber stemmen. Doch Braunsbach ist arm wie eine Kirchenmaus. Woher 2,5 Millionen Euro nehmen? Die einen sehen jetzt den günstigen Moment, was zu machen, und wollen nach Finanzierungsmöglichkeiten suchen. Den anderen ist das alles eine Nummer zu großspurig für das kleine Braunsbach.

Oder der Marktplatzbrunnen. Soll der alte in Ordnung gebracht werden und wieder da hin, wo er war? Die Bewahrer sagen Ja, die Visionäre Nein. Bürgermeister Harsch gehört zu den Zweiten. Die Traditionalisten haben sich durchgesetzt. „Es ist ganz gut, immer wieder geerdet zu werden“, sagt Harsch. „Ich bleibe aber dabei: Die Flut war ein Einschnitt, und der muss sichtbar werden.“ Besucher sollen etwas mitnehmen aus Braunsbach. Demut vor der Natur. Auch Mut: Alles ist möglich, wenn man zusammenhält. Ein Schreiner aus der Nähe macht jetzt Möbel aus dem Schwemmholz, schleift es aufwendig, ölt es ein. Die Narben der Sturzflut belässt er.

Die Apotheke und der Blumenladen waren die Ersten, die wieder aufgemacht haben. Die Volksbankfiliale will bald öffnen, der Arzt seine Praxis beziehen. Im Gasthaus Löwen wird noch renoviert. Die Sonne war eigentlich nie zu. Die Pächterin hatte keine Inventarversicherung. Also stellte sie über den Sommer einfach ein paar Bänke raus. Im Winter half der Stammtisch, die Wirtschaft wieder herzurichten. Familie Wolf macht weiter mit ihrer Heizungs- und Fotovoltaikfirma. Alles scheint zu werden wie früher, vielleicht sogar schöner als vorher – wie bei Schwarz und seinem Laden. Die Bilder, wie er am Unglücksabend nur knapp dem Tod entwischte, gehen ihm manchmal noch durch den Kopf. Er will sich gar nicht vorstellen, was hätte passieren können, wenn Tochter Vanessa, wie eigentlich geplant, mitgefahren wäre.

Der Mondeo ist nicht mehr aufgetaucht

Bei Spitzners oben in Orlach ist der weggespülte Mondeo noch Monate nach der Sturzflut verschwunden. In der Klinge war er nicht, beim Schrotthändler nicht. Einer sagte mal: „Unten am Kocher liegt ein Mondeo, das könnte eurer sein.“ Aber es war ein Kombi. Auch eine Erkenntnis der Flut: dass ein Auto verloren gehen kann.

Was hat er falsch gemacht? „Da hatte ich noch keine Zeit, groß drüber nachzudenken“, sagt Bürgermeister Harsch. „Vielleicht hätten wir mit Schnellschüssen bei den provisorischen Brücken warten und es dann später lieber richtig machen sollen.“

Ist seine Vision vom neuen Braunsbach schon blasser nach neun Monaten? „Überhaupt nicht.“ Normalität wird es in den nächsten drei Jahren nicht geben. Aber er spürt noch die Aufbruchsstimmung. Noch nie hat er so viele Bauplätze verkauft wie in den letzten Monaten. Die Handwerkeraufträge, die er vergibt, sind fast alle sechsstellig: „Da geht richtig was im Ort.“

Braunsbach, glaubt der Bürgermeister, sei wie eine Blume, die aus Ruinen wächst. Das Geld, das jetzt in Ortsgestaltung, Infrastruktur, Bausubstanz fließt, hätte die Gemeinde unter normalen Umständen und aus eigener Kraft in Jahrzehnten nicht aufbringen können: „Das ist unsere Chance.“

Er habe weiße Haare bekommen, sagt Frank Harsch. Auch mental habe er sich verändert. Er weiß jetzt: „Dinge können anders laufen, als man denkt. Und manchmal kommt das Schicksal vom Himmel.“