Staatsrätin mit Stimmrecht im Kabinett: Die Unternehmerin und Familienforscherin Gisela Erler. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Mit 70 ist Gisela Erler die Älteste im Kabinett – und hat auch noch die schwierigste Aufgabe.

Stuttgart - Die Auffahrt zum Clay Haus ist herrschaftlich, der Park verströmt Blumenduft, und der Blick von der Terrasse verschlägt Besuchern den Atem: Gisela Erler hat wohl den schönsten Amtssitz aller baden-württembergischer Regierungsmitglieder. Bis vor kurzem residierte hier noch der Ministerpräsident, während drüben in der Villa Reitzenstein die Bauarbeiter werkelten. Jetzt ist Winfried Kretschmann wieder umgezogen, und Erler durfte hier seinen Platz einnehmen. „Dabei bin ich das kleinste Rädchen der Regierung“, lacht die Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung. Sechs Mitarbeiter, zwei Praktikanten – das ist die gesamte Dienststelle der One-Dollar-Woman. Ihr Job ist laut Verfassung ehrenamtlich.

Fünf Jahre lang hat sie sich dieser Aufgabe schon in der alten Regierung gewidmet. Mittlerweile ist sie 70, und als Kretschmann sie kürzlich fragte, ob sie wieder mit von der Partie sei, hat sie sich das zunächst überlegt. Schließlich könnte sich die siebenfache Großmutter, die auf der Bodenseehalbinsel Höri lebt, ihren Enkelkindern widmen. Oder sie könnte Bücher schreiben, es wäre nicht das erste der Familienforscherin, die eine viel beachtete Studie zu internationalen Arbeitszeitmodellen erstellt hat. Sie könnte sich aber auch wieder ihrer Firma widmen: Die pme Familienservice GmbH, ein Dienstleister für große Unternehmen, hat mittlerweile 1500 Beschäftigte und macht 40 Millionen Euro Jahresumsatz.

Doch die Frau mit dem markanten schwarzen Pony hat sich für die Politik entschieden. Als Tochter des bekannten SPD-Politikers Fritz Erler hat sie diese Leidenschaft wahrscheinlich in den Genen. Außerdem regiert im Land nun Grün-Schwarz – und da denkt eine wie sie nun wirklich nicht an Ruhestand. Denn Erler lebt diesen Farbenmix quasi am heimischen Küchentisch vor: Sie ist mit dem Politologen Warnfried Dettling verheiratet, zu seinen aktiven Zeiten ein strategischer Kopf der CDU und zuletzt Leiter der Grundsatzabteilung in Erwin Teufels Staatsministerium. „Er ist genauso neugierig wie ich, ob der Koalition etwas Neues gelingt“, sagt Erler, die seit 1983 bei den Grünen ist.

Denkwelt zwischen Grünen und CDU nicht weit auseinander

Die Denkwelt der beiden Parteien sei jedenfalls nicht so weit auseinander, wie manche glaubten. Auch ihre Erfahrung als Soziologin spricht für das grün-schwarze Projekt: „Wenn Gruppen etwas gemeinsam tun müssen, die sich vorher feindselig gegenüber standen, entsteht oft ein gutes Bewusstsein für Problemlösungen“, sagt Erler. Coopetition nenne man das in der Spieltheorie, eine Mischung aus Kooperation und Wettbewerb.

Als eigentlichen Grund für ihr Durchstarten nennt sie jedoch ihr altes Aufgabenfeld: „Ich habe viele Dinge angestoßen, sehe aber, dass eine Vertiefung nötig ist.“ Nicht, dass es weiterer gesetzlicher Regelungen bedarf. Bei den Regularien sei Baden-Württemberg mittlerweile weit vorne. So hat der Landtag die Hürden für die Mitsprache gesenkt, und demnächst wird wohl auch der erste „Volksantrag“ gestellt: Damit können Bürger den Landtag zwingen, sich mit einem Thema zu befassen. „Ich bin gespannt, wer den ersten Schritt dazu macht“, sagt Erler. Die ÖDP hat diesen Ehrgeiz, sie will eine Debatte zum Freihandelsabkommen zwischen der EU und Kanada (Ceta) durchsetzen.

Das Bewusstsein, dass Mitsprache nötig ist, hat ihrer Ansicht nach zugenommen - nicht zuletzt dank des von ihr entwickelten Planungsleitfadens. Das Handbuch dient Behörden und Bürgern als Richtschnur für Beteiligungsmöglichkeiten. Natürlich gebe es noch immer die Angst, dass Mitsprache zusätzlichen Aufwand bedeute, sagt Erler. Doch das habe sich empirisch nicht bestätigt. Deshalb kann sie auch mit dem Satz in der Koalitionsvereinbarung gut leben, wonach Bürgerbeteiligung einen „vertretbaren Aufwand“ haben müsse.

An der einen oder anderen Stelle will sie nachjustieren. So benötigen die Landratsämter ihrer Ansicht nach zusätzliche Ressourcen, um Beteiligungsverfahren zu begleiten. Vor allem aber will sie die neuen Formen des ehrenamtlichen Engagements, wie sie etwa bei den landesweit 150 Flüchtlingsinitiativen sichtbar werden, unterstützen. Erler: „Wir müssen Wege finden, dass sie sich festigen und etablieren, ohne dass gleich große Verbände daraus werden.“

Mit den Menschen ins Gespräch kommen

In ihrer zweiten Amtszeit sieht sich die Erler verstärkt als „Staatsrätin für Demokratie“. Was das heißt, hat Kretschmann in seiner Regierungserklärung intoniert, als er eine aktive Bürgergesellschaft als „stärkstes Bollwerk gegen extremistische Strömungen“ bezeichnete. Auch dass so viele Menschen sich von Europa abwenden, treibt ihn um. Deshalb habe er bewusst ein zweites Mal eine Staatsrätin berufen, sagte er. So abstrakt das klingt, so konkret sind Erlers Vorstellungen: „Wir müssen neue Formen finden, wie die Politik mit Menschen ins Gespräch kommt, um der Erosion des demokratischen Bewusstseins entgegenzutreten“, sagt sie. Ob Politiker nun in Schulen gehen sollen oder in Gemeindehäuser, weiß sie noch nicht: „Da muss man experimentieren.“

Aber sie ist sicher, dass die alten Kommunikationsformen zwischen Politik und Bürger nicht ausreichen, um den Vertrauensverlust auszugleichen. Der Haidach zum Beispiel, jener Stadtteil in Pforzheims Südosten, in dem sie aufgewachsen ist, habe sich zur AfD-Hochburg entwickelt. Das führt Erler auch auf Versäumnisse der etablierten Politik zurück. Darüber will sie mit Lehrern und Eltern reden, mit Abgeordneten, Bürgermeistern und Gemeinderäten. „Ich kann das nicht allein lösen, und schreiben Sie nicht, ich sei größenwahnsinnig“, sagt sie: „Ich will aber daran mitarbeiten.“