Wer wird besser behandelt – gesetzlich oder privat Versicherte? Foto: dpa

Gesundheitsexperte Wasem: Die beiden Systeme sind sehr unterschiedlich, dabei wäre ein Mittelweg für alle sinnvoll

Stuttgart - Herr Wasem, die private Krankenversicherung erhöht ihre Beiträge wegen der niedrigen Zinsen um durchschnittlich elf bis zwölf Prozent. Ist das aus Ihrer Sicht zu rechtfertigen?
Wegen der niedrigen Zinsen brauchen die Versicherungen mehr Geld für die Altersrückstellungen, aus denen später die steigenden Behandlungskosten der Mitglieder finanziert werden. Eine Beitragserhöhung ist nach den heutigen Regeln aber erst möglich, wenn die Behandlungen um fünf oder zehn Prozent teurer geworden sind als geplant – je nach Unternehmen. In diese Erhöhung dürfen dann auch die Kosten für die Erhöhung der Altersrückstellungen einkalkuliert werden.
Ist es gut, wenn die Versicherten auf diese Weise schlagartig mit Erhöhungen im zweistelligen Prozentbereich konfrontiert werden?
Die meisten Versicherungen haben ihre Beiträge ja in den letzten zwei bis drei Jahren konstant gehalten. Die Regelung führt dazu, dass es immer wieder für eine Zeitlang überhaupt keine Erhöhungen gibt und dann plötzlich sehr hohe Steigerungen eintreten. Ein Wechsel zu einer gleichmäßigeren Beitragsentwicklung wäre sicher sinnvoll.
Warum gibt es diese Regelung überhaupt?
Die private Krankenversicherung fordert schon lange, die Beiträge auch allein wegen der Zinsentwicklung anpassen zu können. Das stößt aber auf den Widerstand der Verbraucherschützer, weil dies natürlich zu häufigeren Erhöhungen führen würde. Dafür wären diese Anpassungen dann aber mäßiger.
SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach sieht jetzt die Zeit gekommen, die private Versicherung in der gesetzlichen aufgehen zu lassen, um eine finanzielle Überforderung der Privatversicherten zu verhindern.
Man muss die Systeme schon fair vergleichen. Denn auch in der gesetzlichen Versicherung steigen die Beiträge Jahr für Jahr, nur läuft es dort geräuschloser. Durch die Lohnerhöhungen steigen die Einnahmen dort praktisch von selbst. Bei der privaten Krankenversicherung dagegen führen Einkommenssteigerungen nicht automatisch zu höheren Einnahmen. Dort müssen Beitragserhöhungen jedes Mal einzeln beschlossen werden. Dadurch entsteht der Eindruck, nur bei den Privatversicherungen würden die Beiträge steigen.
In welchem System steigt der Beitrag schneller?
Die langfristige Entwicklung ist zwischen gesetzlichem und privatem System durchaus vergleichbar.
Die gesetzlichen Kassen sind aber kaum von der Zinsentwicklung betroffen, weil sie kaum Reserven bilden werden und Behandlungskosten aus den laufenden Einnahmen bestreiten.
Das ist in der Tat ein Unterschied. Die Beiträge in der privaten Krankenversicherung müssen jetzt Schritt für Schritt an das Zinsniveau angepasst werden. In dieser Übergangsphase steigen sie deutlich stärker.
Bekommen Privatversicherte für ihr Geld tatsächlich eine bessere Behandlung als Mitglieder der Krankenkasse?
Sicher ist, dass Privatpatienten in der Regel schneller einen Termin erhalten. Dass sie besser behandelt werden, ist dagegen durchaus zweifelhaft.
Und das, obwohl Ärzte an deren Behandlung viel besser verdienen?
Wir wissen, dass Privatpatienten schneller neue Arzneimittel erhalten. Denn die gesetzlichen Kassen können im Nachhinein eine Wirtschaftlichkeitsprüfung durchführen. Zudem sind die Ärzte an Budgets für Verschreibungen gebunden, bei deren Überschreitung sie mit Strafen rechnen müssen. All das gibt es im privaten System nicht.
Das ist doch eine klare Bevorzugung der Privatpatienten.
Nicht unbedingt, denn der Zugang zu neuen Medikamenten muss nicht immer von Vorteil sein. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass bei neuen Präparaten im Lauf der Zeit auch neue Risiken auftreten können. Manchmal sind Privatpatienten auch die Versuchskaninchen.
Geben sich Ärzte bei Privatpatienten mehr Mühe?
Im Durchschnitt werden Privatpatienten aggressiver behandelt als Kassenpatienten. Sie werden zum Beispiel öfter operiert, weil sich das für den Arzt mehr lohnt als bei Kassenpatienten. Aber auch das muss nicht immer von Vorteil sein.
Wie stark unterscheiden sich Vergütungen durch Privatversicherungen und Krankenkassen?
Im Krankenhaus sind die Ausgaben praktisch gleich – Mehrausgaben entstehen lediglich durch Leistungen wie etwa die Chefarztbehandlung. Auch bei den Arzneimitteln ist es den Privatversicherungen gelungen, sich aus der Überfinanzierung des Systems herauszulösen. Die vorgeschriebenen Preissenkungen bei neuen Medikamenten kommen ihnen heute ebenso zugute wie die Zwangsrabatte, die die Krankenkassen mit den Herstellern aushandeln. Der große Unterschied liegt in der Vergütung für die ärztliche Behandlung – hier zahlen Privatversicherungen unter dem Strich zwei- bis dreimal so viel wie Krankenkassen für die gleiche Leistung.
CDU-Politiker Michael Hennrich fordert, die Arzthonorare in der gesetzlichen und privaten Krankenversicherung anzugleichen. Wäre das sinnvoll?
Darüber kann man durchaus reden, muss aber berücksichtigen, dass die Philosophie der Abrechnungssysteme sehr unterschiedlich ist. Bei der privatärztlichen Versorgung gibt es eine strikte Vergütung nach Einzelleistungen – das heißt, dass jeder Handgriff einzeln bezahlt wird. Das enthält einen starken Anreiz, eher zu viel zu tun als zu wenig. Im gesetzlichen System funktioniert es genau umgekehrt – hier erzielt zum Beispiel ein Hausarzt mehr als 70 Prozent seiner Einnahmen durch die Pauschale, die die er erhält, wenn der Patient zum ersten Mal im Quartal in seiner Praxis auftaucht. Da besteht ein Anreiz, eher zu wenig zu machen, weil viele Tätigkeiten nicht mehr eigens abgerechnet werden können. Aber zwischen diesen beiden Systemen ließe sich sicherlich ein mittlerer Weg finden. Ein solcher Weg wäre auch sinnvoll.
Dann können Privatversicherungen aber nicht mehr mit einer besseren Versorgung werben.
Dieses Werbeargument würde dann entfallen. Es bliebe aber das Argument, dass die Privatversicherungen nach dem Kostendeckungsprinzip arbeiten und die Mitglieder damit für sich selbst versorgen.
Das private System kann über die Gesundheitsprüfung die gesündesten Menschen herauspicken und die kränkeren aufs gesetzliche System verweisen. Ist das fair?
Das ist es auf nicht. Andererseits stabilisieren die Privatversicherungen durch die höheren Vergütungen für Ärzte das Versorgungsystem, was auch im Interesse der gesetzlich Versicherten liegt. Unter dem Strich aber führt das heutige System aber zu einer Entmischung der Risiken . . .
. . .  also zur Rosinenpickerei . . .
. . . zu der auch die Versicherten selbst beitragen. Denn für eine Familie mit zwei Kindern ist die Privatversicherung unattraktiv, weil sie auch für die Kinder Beiträge zahlen muss. Diese Familie geht dann lieber zu den gesetzlichen Krankenkassen, wo die Kinder kostenlos mitversorgt werden.
Ein System voller Widersprüchlichkeiten.
Das System würde man sich heute am grünen Tisch wohl kaum noch einmal so ausdenken. Es hat sich einfach in 120 Jahren der Koexistenz zweier Systeme so herausgebildet.