Der Marmorkrebs verfügt über eine enorme Anpassungsfähigkeit – und zeigt damit, wie Gene an- und ausgeschaltet werden können. Foto: Wikipedia

Auch erworbene Eigenschaften kann der Mensch weitervererben: Wer ungesund lebt, schadet sich selbst und möglicherweise auch seinen Kindern. Wie diese Erkenntnisse im Kampf gegen Krebs helfen können, erklären Heidelberger Forscher – anhand von einem richtigen Krebs.

Heidelberg - In jeder 500. Frau tickt eine Zeitbombe im Erbgut. Eine Mutation in einem bestimmten Gen. Und diese birgt ein hohes Risiko, an Brustkrebs zu erkranken. Aber nicht bei allen Frauen mit dieser Mutation kommt es dazu. Wieso erkrankt also die eine – die andere aber nicht?

Einer, der sich mit dieser Frage in seinen Studien beschäftigt, ist Frank Lyko vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg. Die Vermutung des Biologen: Nicht die Gene allein entscheiden. Es sind viele verschiedene Faktoren, die miteinander und gegeneinander wirken – und so die Entwicklung eines jeden Organismus beeinflussen. In Gutem wie in Schlechtem.

Chemische Anhängsel schalten Gene an und ab

Lyko ist ein Krebsforscher im besten Sinne: Für seine Grundlagenforschung beschäftigt er sich mit Marmorkrebsen. Einem Süßwasserkrebs, der über eine bemerkenswerte Anpassungsfähigkeit verfügt. Er kann in warmen wie auch in kalten Gewässern überleben – und zwar überall auf der Welt. Und noch etwas macht ihn für die Forschung interessant: Er gehört zu den wenigen Arten, die sich durch einen evolutionsbiologischen Zufall selbst klonen können. Alle Exemplare dieser Art haben dasselbe Erbgut, die exakt gleichen Gene. Lyko ist sich daher sicher: Es sind also nicht die Gene, die sich verändern und dazu führen, dass der eine Krebs sich im Badesee bei Freiburg wohler fühlt und der andere in Tümpeln auf Madagaskar. „Es sind vielmehr kleinste Veränderungen an der Verpackung des Erbguts, die zur Folge haben, dass ein bestimmtes Gen stärker oder weniger stark aktiv ist“, sagt Lyko.

Epigenetik lautet der wissenschaftliche Ausdruck dafür, wenn chemische Anhängsel an den Genen bestimmen, unter welchen Umständen welches Gen angeschaltet wird und wann es wieder stumm wird. Diese Genregulation hilft einem Organismus, sich an verschiedene Umweltbedingungen anzupassen. Je nachdem wie sich die Population oder das Klima ändert, werden Gene angeworfen, die in einer solchen Situation nützen. Überflüssige werden dafür stillgelegt.

Umweltfaktoren wie Tabakrauch können Gene falsch regulieren

Das kann – wie beim Marmorkrebs – von Vorteil sein. Doch diese Genregulation beeinflusst beim Menschen auch das Risiko von Krankheitsentwicklungen samt deren Verlauf. So gibt es chemische Anhängsel an den Genen, die dafür sorgen, dass Zellen sich nicht nach Belieben vermehren. Fallen diese aus, führt das zu ungehemmtem Zellwachstum – und zu Krebs. Ähnliche fehlgeschaltete Gene vermutet man auch als Auslöser für Asthma, Diabetes und sogar Alzheimer.

Doch wer schaltet da und wozu? Daran forscht unter anderem die Immunbiologin Irina Lehmann am Umweltforschungszentrum Leipzig. Aufgrund ihrer Langzeitstudien mit Müttern und Kindern beginnt sie zu verstehen, wie das menschliche Epigenom etwa durch Umweltbelastungen beeinflusst wird, sodass sich über Jahre hinweg Krankheiten entwickeln können: „Raucht beispielsweise eine Frau während der Schwangerschaft, trägt ihr ungeborenes Kind ähnliche Schäden am Erbgut davon wie sie selbst.“ Das funktioniere nicht über die Vererbung. Die Kinder erhalten die giftigen Substanzen im Tabakrauch über das Blut der Mutter. In den kindlichen Zellen regulieren die Giftstoffe dann die Gene.

Kann Krebs auch einfach wieder abgeschaltet werden?

Ein Genschalter wird dabei besonders durch den Rauch betätigt: Er reguliert ein Enzym, das eine Rolle bei Entzündungsreaktionen spielt. Wird der Schalter umgelegt und das Enzym aktiviert, kann dies dazu führen, dass das Kind später an Lungenkrankheiten erkrankt, die eigentlich typisch für Raucher sind. Rund 400 weitere solcher Schalter gibt es noch, die vom Rauch beeinflusst werden und Gene regulieren, die an Erkrankungen wie Diabetes, Fettleibigkeit oder Krebs beteiligt sind.

Doch wenn Umweltgifte wie Tabakrauch Gene fehlsteuern können, so müsste dies sich doch auch wieder rückgänging machen lassen: Könnte man Krebs einfach abschalten? Tatsächlich erweist sich die Epigenetik als Chance im Kampf gegen Krebs. Ärzte hoffen über das Verständnis, wie sich Gene regulieren lassen können, auf eine bessere Frühdiagnose und neue Therapien. Denn um möglichst lange zu leben und sich möglichst oft zu teilen, verwenden Krebszellen genetische und epigenetische Tricks.

Medikamente können Krebsgene regulieren – und in den Zelltod schicken

Die genetischen Veränderungen – häufig Mutationen – lassen sich von außen nicht beeinflussen. Bei den epigentischen Veränderungen, kann dies aber gelingen: So können etwa gute Gene aktiviert werden, die die Zellteilung verhindern oder das Selbstmordprogramm der Zellen auslösen. Derzeit wird eine Reihe von Wirkstoffen getestet, die stillgelegte Krebsbremsen wieder aktivieren sollen. Teils sind sie sogar schon als Medikament – etwa bei bestimmten Formen von Leukämie – im Einsatz.

Und es gibt weitere Studien – darunter eine Untersuchung mit 50 Kindern und Jugendlichen, deren Hirntumor, ein malignes Glioblastom, dank epigenetischer Therapie in seinem Wachstum gestoppt werden kann. Bei manchen Patienten seit mehreren Jahren. Doch Olaf Witt vom Hopp-Kindertumorzentrum KiTZ am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen in Heidelberg dämpft die Erwartungen: „Es handelt sich hierbei um Einzelerfolge.“ Für das Gros der Patienten hat dieser Krebs nach wie vor eine schlechte Prognose. Noch immer sei unklar, warum ein Teil der Kinder auf die epigenetische Therapie reagiert haben, der andere aber nicht. Derzeit sind Witt und Kollegen von rund 60 weiteren Kinderkrebszentren dabei, mit Hilfe spezifischer Tests, die epigenetischen Infos eines Patienten auszulesen. So lässt sich schon im Vorfeld beurteilen, ob eine solche Therapie in Frage komme – oder ob sie nur unnötiges Leiden schafft.

Forscher machen Krebsgene sensibler und für Chemotherapien angreifbarer

Dass epigenetische Therapien ein Allheilmittel sein kann, daran glauben Wissenschaftler nicht. Die Forschung setzt daher auf Kombinationstherapien: Epigenetische Wirkstoffe werden zusammen mit Chemo- , Strahlenoder auch Immuntherapien angewendet. Zumindest beim Pankreastumor könnte dies ein Ansatz sein: „Dieser Krebs ist vermutlich aufgrund von epigenetischen Faktoren weitestgehend resistent gegenüber Standardtherapien“, sagt Jens Siveke, forschender Arzt im Deutschen Konsortium für Translationale Krebsforschung (DKTK) am Westdeutschen Tumorzentrum Essen. Daher wird versucht, mit Hilfe von Medikamenten diese fehlgeleitete Regulation umzudrehen, um die Tumorzellen empfindlicher für die Chemotherapien zu machen.

Generell brauche es aber mehr Forschung auf dem Gebiet: „Noch ist etwa nicht geklärt, welche Langzeitnebenwirkungen es hat, wenn man auf die Regulation der Gene einwirkt“, sagt Olaf Witt. Zudem wirken epigenetische Therapien auch auf die Vorgänge in der gesamten Zelle. Man müsse realistisch bleiben, ergänzt der Leiter der Epigenomik am DKFZ, Christoph Plass: „Die Epigenetik bietet eine weitere Chance gegen Krebs.“ Nicht für jeden, sondern nur für bestimmte Patientengruppen. Aber man kann sagen: immerhin für sie.