Dietrich Wagner, von einem Wasserwerferstrahl schwer verletzt Foto: dpa

Hohe Polizeibeamte geben sich beim Wasserwerfer-Prozess die Klinke in die Hand. Keiner will während des Einsatzes am 30. September 2010 von Verletzten durch Wasserstöße erfahren haben.

Stuttgart - „Keiner von uns hat geglaubt, dass das Bild echt ist. Wir haben es für eine Fotomontage gehalten“, sagt der Zeuge vor der 18. Strafkammer, vor der am Landgericht der Wasserwerfer-Prozess verhandelt wird. Der 55-jährige Polizist war am 30. September 2010, als die Polizei im Mittleren Schlossgarten die Baumfällungen für Stuttgart 21 vorzubereiten hatte, als Leiter des Führungsstabs eingesetzt. „Wir dachten, solche Verletzungen seien bei einem Polizeieinsatz nicht möglich“, fährt der Zeuge fort.

Er spricht über das Bild, das den S-21-Gegner Dietrich Wagner zeigt – mit blutenden Augen, von zwei Männern gestützt. Das Foto ist zum Symbol des missratenen Polizeieinsatzes geworden an jenem 30. September 2010, dem sogenannten Schwarzen Donnerstag. Das Foto Wagners, der im Prozess mit anderen durch die Wasserwerfer Verletzten als Nebenkläger auftritt, hing am Nachmittag des Polizeieinsatzes an einer Pinnwand im Führungsstab an der Hahnemannstraße. Ein Mitarbeiter hatte es aus dem Internet gezogen.

Vor Gericht müssen sich zwei Polizisten wegen fahrlässiger Körperverletzung verantworten. Die Beamten waren damals als Einsatzleiter im Schlossgarten eingesetzt. Sie weisen jede Schuld von sich.

Der Zeuge legt Wert darauf, dass der Einsatz nicht übers Knie gebrochen, sondern akribisch geplant worden sei. „Geheimhaltung war die oberste Prämisse“, sagt der damalige Leiter des Führungsstabs. Offenbar hatte die Bahn AG den Einsatztag zwingend vorgegeben. Er sei, so der Zeuge am Montag, mit dem Bauleiter des Grundwassermanagements, das im Schlossgarten gebaut werden sollte, am 2. September vor Ort gewesen. „Es hieß, man wolle um Mitternacht zu Beginn der Baumfällperiode anfangen“, so der Polizist. Dass die Bahn überhaupt keine Genehmigung für die Abholzung der Bäume hatte, habe er erst am 30. September kurz vor Mitternacht erfahren. Man habe ihm ein Schreiben des Eisenbahn-Bundesamts weitergereicht, in dem ein mehrtägiges Baumfällverbot festgelegt gewesen sei. Dieses Schreiben habe er Polizeipräsident Siegfried Stumpf gegeben. Der sei dann kurz verschwunden, habe telefoniert und habe ihm, also dem Zeugen, dann mitgeteilt: „Das können wir unberücksichtigt lassen.“

Ursprünglich hatte der Einsatz um 15 Uhr beginnen sollen, was allerdings durchgesickert sei, so der damalige Führungsstableiter. Deshalb habe man sich im kleinen Kreis auf 10 Uhr festgelegt. Weil da aber nicht genügend Einsatzkräfte zur Verfügung standen, sei Polizeipräsident Stumpf am Nachmittag des 29. September ins Staatsministerium zu Ministerpräsident Stefan Mappus gefahren, der Stumpf zusätzliche Hundertschaften unter anderem aus Bayern zugesagt habe, so der Zeuge.

Das Ziel sei gewesen: Schneller sein als die für den 30. September angemeldete Schüler-Demonstration, schneller sein als die S-21-Gegner. Das ging gründlich schief. Das Anrücken der Polizeikräfte verzögerte sich auf 10.30 Uhr. Um 10.25 Uhr schlugen die Parkschützer bereits Alarm – Tausende S-21-Aktivisten strömten in den Schlossgarten.

Am Ende des Einsatzes zählte man mehr als 30 verletzte Polizisten und mehr als 150 verletzte Demonstranten, darunter mehrere Schwerverletzte.

Neben dem Strafprozess und den ergangenen Strafbefehlen gegen mehrere damals eingesetzte Polizisten stehen Schmerzensgeldverfahren im Raum. Anwalt Frank-Ulrich Mann, der den durch Wasserstöße schwer an den Augen verletzten Dietrich Wagner vertritt, hat nach eigener Aussage die Zusicherung vom Land, dass die Verjährungsfrist von drei Jahren nicht greife. Derzeit brütet das Stuttgarter Verwaltungsgericht darüber, ob der Polizeieinsatz rechtswidrig gewesen ist. Doch unabhängig vom Ausgang dieses Verfahrens rechne er „mit einer Schmerzensgeldzahlung in Höhe von ungefähr 100 000 Euro“ für seinen Mandanten, so Mann. Am Mittwoch ist der Ex- Oberstaatsanwalt Häußler als Zeuge geladen.