Ein Blechnapf, wie er derzeit im Hauptstaatsarchiv zu sehen ist Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Einmal Heimkind, immer Heimkind? Dieser und weiteren Fragen zum Thema Heimerziehung soll eine tagesaktuelle Ausstellung im Hauptstaatsarchiv auf den Grund gehen. Noch bis 30. Oktober können bewegende Einblicke in den Alltag der Stuttgarter Heimkinder gewonnen werden.

Stuttgart - Schätzungen zufolge wuchsen zwischen 1949 und 1975 etwa 800 000 Kinder und Jugendliche bundesweit in Heimen auf – allein in Baden-Württemberg in 650 Einrichtungen. Diese Kinder sind es auch, die sich heute als Erwachsene mehr und mehr zu Wort melden. Fälle wie die Brüdergemeinde Korntal, gegen die im vergangenen Jahr schwere Anschuldigungen über Misshandlungen erhoben wurden, sind kein Einzelfall. Denn fanden „verwahrloste und gefährdete“ Kinder in Heimen vermeintlich Zuflucht aus unsteten Familienverhältnissen, so scheint dies oftmals ein Schritt vom Regen in die Traufe gewesen zu sein.

Das zeigt die Ausstellung des Landesarchivs Baden-Württemberg auf sensible und eindrückliche Weise. Das Thema Heimerziehung wird aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet und gewährt einen Einblick in die Heimlandschaft, den Alltag der Kinder, die Gründe für Heimeinweisungen und auch den Werdegang der heute Erwachsenen. Demnach haben Schikanen und seelische wie körperliche Grausamkeiten ihren Alltag oft geprägt, doch auch „Momente des Glücks“ sind dokumentiert.

Ein objektives und allgemein gültiges Bild zu erlangen, das ist für Dr. Nicole Bickhoff, Leiterin des Hauptstaatsarchivs, aufgrund unterschiedlicher Wahrnehmungen zwar eine Herausforderung. Ziel sei es jedoch, dass die Betroffenen Antworten auf persönliche Fragen erhalten und so ihre Vergangenheit aufarbeiten können. So ist die Ausstellung das Ergebnis umfangreicher Aktenrecherchen und den couragierten Aussagen der Betroffenen selbst. Kuratorin Nadine Saidu beschreibt die Recherche als ein „Mosaik aus vielen Steinen, die nur zusammen einen Blick auf das Ganze zulassen“.

Film „Weichenstellung – Lebensprägung Heim“ erstmals zu sehen

Teil dieses Ganzen ist auch der Film „Weichenstellung – Lebensprägung Heim“, der zur Eröffnung im Hauptstaatsarchiv erstmalig vor Publikum ausgestrahlt wurde. Unter der Regie von Markus Ziegler entstand ein 30-minütiger, einfühlsamer und teils verstörender Film, in dem fünf ehemalige Heimkinder ihre Kindheitserinnerungen offen und schonungslos wiedergeben – teilweise erstmals in der Öffentlichkeit. Den Auszügen der Originalakten werden die Aussagen der Betroffenen in teils intimen Details gegenübergestellt, was die verzweifelte Situation der Kinder, die oft isoliert und ohne jeden Rückhalt ihren Platz in der Gemeinschaft suchten, zeigt.

„Morgens Gebete und bis abends Gemeinheiten“, beschreibt eine der Protagonistinnen die rigiden Erziehungsmethoden der Betreuer. Ein anderer bezeichnet seine Zeit als 14-Jähriger im Steinbruch als „das Härteste was man sich vorstellen kann“. Die heute erwachsenen Heimkinder geben der Geschichte damit auf beeindruckende Weise ein reales Gesicht und zugleich erschütternde Einblicke, was sichtlich Courage und Überwindung kostet. Denn um ein historisch abgeschlossenes Thema handelt es sich bei dieser Ausstellung nicht. Was zu dieser Zeit am Rande der Gesellschaft und doch in unserer unmittelbaren Nachbarschaft geschah, prägt diese Menschen bis heute.

Die Ausstellung soll die Erinnerungen sichtbar machen und Raum für Debatten in der Gesellschaft geben. Sowohl was die Anerkennung des Unrechts und Leids, welches die Betroffenen erfahren haben, betrifft, als auch über die Bedeutung von Kinderrechten heute und in Zukunft.