Blick in einen der 36 Bände von Waltraud Riexinger Foto: Kaier

Heute greifen Fans zum Smartphone, früher horteten sie alles über ihre Stars auf Papier. Die Liebe zum Stuttgarter Ballett kann grenzenlos sein. Waltraud Riexingers Begeisterung lässt sich nun messen: 36 Bände, zwei Regalmeter umfasst ihre Sammlung, in die seit 1963 alles kam, was dem Ballettfan in die Hände fiel.

Stuttgart - Stuttgart - So viel Ballettgeschichte war nie. Zumindest in Stuttgart nicht, wo sie eigentlich stattgefunden hat. Waltraud Riexinger hat alles gesammelt, was zwischen dem Amtsantritt John Crankos und der Verabschiedung von Marcia Haydée zum Thema erschienen ist – kistenweise Kritiken, Kommentare, Klatsch und Tratsch. Aus Zeitungen und Zeitschriften kopiert oder ausgeschnitten und die Jahre über wie all die anderen Publikationen, Annuals, Bücher und Broschüren aufgehoben. „Doch irgendwann war es einfach zu viel. Ich musste Platz schaffen und den Keller räumen“, meint die rüstige Rentnerin, und da sich mit der Zeit so viel historisch Bedeutsames angehäuft hat, war ihr das Wegwerfen zu schaden.

„Also habe ich selbst die Sache in die Hand genommen“, sagt sie und sich ganz wörtlich in ihre Aufgabe hineingekniet. „Zweieinhalb Jahre lang habe ich alles auf meinem Wohnzimmerboden ausgebreitet, sortiert und mich dabei systematisch von Spielzeit zu Spielzeit vorgearbeitet.“ Bis am Ende das ganze Material, von Profis in 36 Büchern gebunden, vor ihr stand: als Kompendium einer Kunst, eindrucksvolle zwei Meter lang. Doch davon später.

Marcia Haydée entfacht die Leidenschaft für Ballett

Gesammelt hat Waltraud Riexinger nicht von Berufs wegen, sondern aus lauter Begeisterung. „Ich war doch ein Ballettfan“, sagt die ehemalige Grund- und Hauptschullehrerin, die in Stuttgart-Bad Cannstatt zur Schule gegangen ist. „Und daran war letztlich Marcia Haydée schuld, die mich als darstellende Tänzerin so fasziniert hat. Sie hatte und hat, wie soll ich das ausdrücken, eine packende Ausstrahlung.“

Ermöglicht hat ihr das nachhaltige Erlebnis ein Musiklehrer, der immer wieder Schülerkarten für die Oper besorgt hat. „Irgendwann gab’s mal welche für das Ballett, die niemand haben wollte. Und da man ja auch das zumindest kennen sollte, habe ich sie genommen.“ Und so fing es an mit einem gemischten Abend – und mit dem Ballett „Das Nachtpfauenauge“ von Peter Wright, mit dem sich die Primaballerina der zukünftigen Pädagogin eingeprägt hat.

1963 war das. Die Zeit davor hat Waltraud Riexinger mit Hilfe von Freunden rekonstruiert. Programmhefte, Premierenberichte, Fotos vor allem von Klaus Mocha, aber auch von Sabine Feil und anderen Ballettfans, machen die Vergangenheit manchmal auf verblüffende Weise wieder anschaulich.

Wer kann sich schließlich noch daran erinnern, dass in der Anfangszeit das Stuttgarter Ballett auch in der Liederhalle aufgetreten ist? Dass anlässlich einer Funkausstellung eine Vorstellung in den nicht mehr existierenden Hallen auf dem Killesberg stattgefunden hat? Dass die Schwetzinger Festspiele eine Zeit lang zum selbstverständlichen „Besitz“ des Stuttgarter Balletts gehört haben? „Présence“ von John Cranko ist dort beispielsweise uraufgeführt worden, eines seiner progressivsten Stücke.

Mit Reid Anderson schließt Waltraud Riexingers Sammlung

Ab 1964 werden die Bände dicker. Und richtig dick werden sie, sobald die Gastspiele kommen – und der Schritt vom Ballett der Württembergischen Staatstheater zum Stuttgarter Ballett: ein Namenswechsel, der innerhalb der Entwicklungsgeschichte des Ensembles einiges über den Bedeutungswandel des Balletts besagt.

Waltraud Riexinger nennt noch einen anderen Aspekt, der sich beispielhaft anhand ihrer Dokumentation ablesen lässt: den der Führungspositionen und damit der Abhängigkeiten. „Cranko ist ja ursprünglich noch als Ballettmeister angestellt worden“, sagt sie. „Erst später wurde er zum Ballettdirektor aufgewertet.“ Dass sich Reid Anderson heute, Eigenständigkeit beweisend, Ballettintendant nennen kann, ist nicht zuletzt auch Crankos Verdienst.

Mit Reid Anderson schließt Waltraud Riexingers Sammlung. Wie gesagt, hört die Dokumentation 1996 mit dem Abgang von Marcia Haydée auf. Waltraud Riexinger: „Ich sagte mir: Irgendwann ist Schluss, und das ist jetzt die Gelegenheit. Seither lebe ich in der Gegenwart und horte nichts mehr. Schließlich habe ich das Ganze ja letztlich auch deswegen gemacht, weil ich wieder freier atmen wollte.“

Dass ihre Sammlung singulär ist und deshalb eine solche Bedeutung hat, konnte sie nicht ahnen – wie sie freimütig bekennt. Auch nicht, dass sie sich zu imponierender Größe auswächst. „Anfangs dachte ich, dass sich meine Arbeit in zwei, drei Bänden erledigt.“ Auch wusste sie nicht, wie schwierig sich eine Bindung gestalten würde.

Dreieinhalb Jahre hat die Fertigstellung gedauert

Von den unterschiedlichen Formaten fühlten sich die wenigen Buchbinder, die es überhaupt noch gibt, völlig überfordert. Erst ein Tipp von Karin Kunze, seinerzeit noch an der Württembergischen Landesbibliothek angestellt, brachte sie auf die richtige Spur: eine Werkstatt auf der Alb. „Als deren Leiter allerdings hörte, dass es sich um 36 Spielzeiten handelt, ist er schier in Ohnmacht gefallen.“ Dreieinhalb Jahre hat die Fertigstellung gedauert, nebenher zur normalen Arbeit: „Ein harter Brocken für die Binderei, weil manche Hefte so dick waren. Oft sind die Mitarbeiter zusammengesessen und haben nach einer Lösung gesucht. Eine Herausforderung für uns alle, so der Chef. Nicht nur für mich.“

Die Mühe hat sich gelohnt. Die Kronzeugin des Stuttgarter Balletts will ihre Sammlung als Dauerleihgabe dem Landesarchiv überlassen. Dann kann in Ludwigsburg, wo im Arsenalbau auch das Archiv der Württembergischen Staatstheater untergebracht ist, jeder darauf zurückgreifen. Jeder, der wissen will, was es beispielsweise mit dem Noverre-Ballett für eine Bewandtnis hat oder was wirklich geschah in einer Vergangenheit, die die Erinnerung manchmal so verklärt. Wohlgeordnet, wird der Wissensschatz wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Man muss ihn nur heben – Waltraud Riexinger sei Dank.