Stauss glaubt, dass Merkel für viele Konservative nicht mehr wählbar ist. Foto: picturedesk

Martin Schulz hat die SPD in Schlagdistanz zur Kanzlerin gebracht. Allein das gilt schon als Sensation. Im Interview erklärt Wahlkampfmanager Frank Stauss was Schulz nun tun muss und was Merkel das Leben so schwer macht.

Berlin - Das Bundestagswahl schien für die Sozialdemokraten schon gelaufen, die CDU uneinholbar enteilt. Doch die Nominierung von Martin Schulz als Spitzenkandidat hat alles verändert. Es sei eine „ungeheuer spannende Wanderung der Wählerschaft zu beobachten“, sagt der erfahrene Wahlkampfmanager Frank Stauss. „Die Anhänger fast aller Parteien orientieren sich in diesen Tagen neu.“ Das habe in dieser Dimension niemand voraussehen können. Im Interview bewertet der 52-Jährige die Chancen von Martin Schulz und sichtet die Achillesferse von Kanzlerin Angela Merkel.

Herr Stauss, was macht das Wahlkampfjahr 2017 aus Sicht eines Wahlkampfmanagers besonders?
Das Jahr hat zunächst einmal sehr überraschend angefangen. Man hatte erwartet, dass mit einer Kandidatur von Sigmar Gabriel für die SPD die Wahl schon gelaufen ist und die Partei um die 20 Prozent oder darunter landet. Der Union hätten dann schon 35 Prozent gereicht, um bequem weiter die Kanzlerin zu stellen. Durch die Nominierung von Martin Schulz ist eine ungeheuer spannende Wanderung der Wählerschaft zu beobachten. Die Anhänger fast aller Parteien orientieren sich in diesen Tagen neu.
Hätten Sie das Ausmaß der Wählerbewegung für möglich gehalten?
Das hat in dieser Dimension keiner vorhergesehen, auch wenn wir wussten, dass Martin Schulz einen positiven Schub auslösen kann. Die Person Sigmar Gabriel hatte extrem polarisiert und viele potenzielle SPD-Wähler von einem Bekenntnis zur Partei abgehalten. Deswegen waren wir nach seinem Verzicht schon davon ausgegangen, dass die SPD drei bis fünf Prozentpunkte zulegt. Aber einen Zuwachs von zehn Prozentpunkten hat keiner für möglich gehalten.
Dabei hat sich Martin Schulz inhaltlich noch gar nicht zu erkennen gegeben. Er ist für viele nicht viel mehr als dieser Europäer mit Bart und Brille . . . 
Einspruch! Ich widerspreche der Darstellung, die Leute wüssten nicht, wer Martin Schulz ist und wofür er steht. In all den Jahren, in denen es in Europa turbulent zuging, war Martin Schulz fast jeden Abend in der „Tagesschau“. Die Leute haben ihn wahrgenommen als jemanden, der kämpfen kann. Der Alexis Tsipras die Leviten liest, aber auch hart gegenüber einem Viktor Orbán oder einem Silvio Berlusconi auftritt. Es nutzt ihm enorm, dass er als glühender Europäer wahrgenommen wird. Viele Menschen haben jemanden vermisst, der sich mit Macht und Energie für die europäische Idee einsetzt. Die AfD hat uns einreden wollen, dass hierzulande plötzlich alle europakritisch geworden seien. Das hat mit der Lage in Deutschland aber nichts zu tun. In Deutschland finden über 80 Prozent der Menschen Europa gut. Außerdem nimmt man Schulz wegen seiner persönlichen Vita ab, dass er weiß, wo den Leuten der Schuh drückt.
Mehr braucht es nicht, um zu wirken?
Wenn die Menschen das Gefühl haben, dass der Mann glaubwürdig ist, für Europa und für Gerechtigkeit kämpft und das Herz am rechten Fleck hat, dann ist das mehr, als andere mit einem dicken Wahlprogramm erreichen können.
Schulz wird sich trotzdem noch konkreter positionieren müssen. Welchen Nerv muss er treffen, mit welchem Kurs säuft er ab?
Es ist ganz wichtig, über das zu sprechen, was die Menschen wirklich bewegt. Die Politik beschäftigt sich derzeit vor allem mit der großen Weltpolitik, lässt dabei aber außer Acht, was im Alltag der Menschen eigentlich abgeht. Wichtig sind zum Beispiel diejenigen, die heute 45 bis 55 Jahre alt sind, das ist ein großer Teil der Bevölkerung. Die sind im Beruf sehr eingespannt, haben häufig Kinder und oft zugleich Eltern, die weit weg wohnen und um die sie sich Sorgen machen. Stichwort Pflege. Diese Menschen wollen, dass die Politik ihren Druck versteht und auch Unterstützung anbietet. Aber darüber spricht kaum jemand. Finanziell geht es vielen nicht schlecht, aber die Menschen spüren, dass die Welt sich verändert und dass sie sich dem nicht entziehen können. Deshalb ist der Ansatz der SPD richtig, sich beispielsweise mit der Veränderung der Arbeitswelt im digitalen Zeitalter zu beschäftigen.
Welcher Kurs wäre für Schulz gefährlich?
Ein Problem des Wahlkampfs 2013 war, dass er zu pessimistisch angelegt war und an der Lebenswirklichkeit vieler Menschen vorbei ging, denen es ja mehrheitlich recht ordentlich geht. Es fehlte neben den klassischen Umverteilungsthemen ein Modernisierungsversprechen. Ohne eine solche Vision hat die SPD aber noch nie gewonnen. Ob es die Ostpolitik von Willy Brandt oder die Gesellschaftspolitik von Gerhard Schröder war, stets waren es Modernisierungsthemen, die der SPD zum Sieg verhalfen. Natürlich muss die SPD immer ein Herz für die kleinen Leute haben, aber sie muss eben auch den vielen Millionen Menschen Signale senden, die einen guten Job haben, die auf ein paar Euro mehr im Monat nicht angewiesen sind und trotzdem wollen, dass es gerecht im Land zugeht. Diese Menschen leben gerne im Deutschland von heute, wollen aber auch wissen, wie es weiter voran geht: in der Familienpolitik, bei neuen Konzepten für die Arbeitswelt, bei der Bildung, bei der Integration. Da kann Schulz noch nachlegen.
Profitiert Schulz vom Zustand der Union?

Jedenfalls hat die Union diesmal strategisch das größere Problem. Durch die Flüchtlingspolitik, aber auch durch den Modernisierungskurs, den Merkel in den letzten Jahren erzwungen hat, ist sie für viele Konservative nicht mehr wählbar. Die sind jetzt bei den Nichtwählern oder bei der AfD und werden nicht zurückkommen, solange sie noch die CDU-Vorsitzende ist. Merkel wollte sich diese fehlenden Prozente von einer desorientierten SPD und auch von den Grünen holen. Mit einer Stimme für Merkel hätten diese Wähler nicht für Gabriel stimmen müssen und dennoch ein Zeichen gegen die AfD, für Europa und für Weltoffenheit setzen können. Jetzt ist ihr dieser Weg abgeschnitten, denn die Leute aus dem eher progressiven Milieu sagen: Mensch, jetzt kann ich ja den Schulz wählen. Merkel kann jetzt aber weder weiter nach rechts noch nach links driften, sonst vergrault sie am Ende alle: Konservative und moderne Wähler. Deshalb kann sie tatsächlich in Schwierigkeiten geraten.