Auf Tuchfühlung: Angela Merkel (CDU) begrüßt am Mittwochabend auf dem Marktplatz in Calw die Besucher Foto: dpa

Sie schüttelt Hände – aber drischt nicht auf den Gegner ein. Angela Merkel (CDU) gibt sich beim Wahlkampf in Calw sachlich und sanft.

Calw - Das sieht nach Heimspiel aus. Bereits eine Stunde bevor CDU-Chefin Angela Merkel auf dem Marktplatz von Calw Wahlkampf führt, sind die Parkhäuser der Stadt rappelvoll. Rasch füllt sich die prächtige Fachwerk-Kulisse. Letztlich sind es geschätzt gut 4000 Zuhörer, die für die Kanzlerin gekommen sind. Auch in einem Wahlkreis, der vor vier Jahren mit 46,3 Prozent der Erst- und 38 Prozent der Zweitstimmen glatt an die CDU ging, ist das beachtlich.

Die Bühne steht am unteren Rand des ansteigenden Platzes, das heißt auch viele Zuschauer ganz hinten haben freie Sicht. Am Rand heischen die Piraten und Jusos um Aufmerksamkeit. Ein Ballon mit der Aufschrift „Nationalpark Schwarzwald jetzt!“ – auch er artig am Rand – schwebt über der Szene. Dominiert wird sie aber von CDU-Wahlplakaten, von denen der gewichtige Parlamentarische Sozial-Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel konzentriert auf die Besucher blickt. Darunter der doppelbödige Slogan: „Unser Gewicht in Berlin“. Bandenwerbung sozusagen, wohin man schaut. Ein lauer Spätsommerabend fast wie im Stadion. Ein Eindruck, der sich noch verstärkt, als Merkel durch ein enges Seilspalier den Platz der Länge nach durchmisst: dröhnendes Schlagzeugwummern aus Verstärkern, Rufe, Applaus. Dazu das gellende Pfeifkonzert eines Anti-Stuttgart-21-Grüppchens, wie es im 100-Kilometer-Umkreis von Stuttgart längst zur baden-württembergischen Politik-Folklore gehört.

Kaum auf der Bühne, winkt Merkel strahlend in die Menge. Dazu die typische, leicht geneigte und geduckte Kopfhaltung. Das kommt an. Viele winken zurück, die Fotohandys gehen nach oben.

Mit Hermann Hesses Geburtshaus kann Merkel nur wenig anfangen

Dann wird die Kanzlerin vom Moderator auf dem falschen Fuß erwischt. Sie stehe nun neben dem Hermann-Hesse-Geburtshaus, wird sie belehrt – und lässt mit der Frage „Der hat also nicht immer hier gelebt?“ schnell erkennen, dass sie mit diesem Namen wenig anfangen kann. Was den nun leibhaftigen Fuchtel neben ihr nicht davon abhält, ihren Calw-Besuch drehbuchgemäß mit „Angela Merkel auf Hermann Hesses Spuren“ zu umschreiben. Dem CDU-Landesvorsitzenden Thomas Strobel bleibt danach der Versuch, die Stadionatmosphäre wieder herzuzaubern. Er drischt kurz, aber knackig auf Grün-Rot ein. Vergeblich. Das Publikum bleibt ruhig.

Für die Kanzlerin ist das kein Problem. Zündende Großrhetorik ist ohnehin nicht ihr herausragendes Talent. Der Holzhammer mag ein beliebtes Werkzeug im Wahlkampf sein – im Merkelschen Instrumentenkasten fehlt er. Und so bekommen die Zuhörer in Calw eine auffallend sanfte Wahlkampfrede. Staunen vor allem darüber, was alles nicht vorkommt: keine Fremdwörter zum Beispiel. Die vermeidet Merkel geradezu pedantisch. Selbst aus der Demografie wird der – verständlichere – „Altersaufbau“, aus der Legislaturperiode die eingängigere „Wahlperiode“.

Es fehlt auch jedes sonst so sattsam gewohnte Einprügeln auf den politischen Gegner. Nichts zum Schenkelklopfen, weil Grüne und Sozis vorgeführt werden. SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück kommt in Merkels Rede kein einziges Mal vor. In Calw kommt das an. Applaus hier und dort, nicht leidenschaftlich, aber aufmunternd. Und irgendwo zwischen Merkels Ausführungen über den Mindestlohn und die Sicherung der Renten bleibt den „Oben bleiben!“- und Lügenpack!“-Schreiern die Luft weg. Spätestens da ist es ganz vorbei mit der Stadionatmosphäre.

Nur einmal erlaubt Merkel sich einen Frontalangriff

Dazu passt die Rede der Kanzlerin, die in allem der Gegenentwurf zu den adrenalingetränkten Großattacken eines Gerhard Schröder ist. Merkel erlaubt sich einen einzigen Frontalangriff auf den politischen Gegner: „Manches können Sie sehr viel besser als die Politik“, ruft sie ihren Zuhörern zu. „Zum Beispiel entscheiden, wann Sie Fleisch essen wollen.“ Da wird es laut und fröhlich, das Publikum zeigt die alt eingeübten Reflexe. Aber sonst? Ist das eher eine kleine Unterrichtsstunde als eine Wahlkampfrede. Volkshochschule unter freiem Himmel. Das Wort hat die Dozentin Merkel, Fachbereich Politik und Sozialkunde.

Auf dem Stundenplan steht ein kleines Lehrstück zum Thema Europa. Das geht so: „Von 7,2 Milliarden Menschen auf der Erde sind 80 Millionen Deutsche. Der baden-württembergische Schulunterricht macht es möglich, dass Sie ganz schnell darauf kommen, welchen Anteil wir also haben.“ Deshalb sei es wichtig, dass Deutschland in der „Heimat Europa“ gut aufgehoben sei. „Europa verteidigt die Meinungsfreiheit“, betont Merkel, die freie Religionsausübung, überhaupt die Vielfalt. Und weil Europa eine gemeinsame Währung hat, führten die europäischen Nationen auch keine Kriege gegeneinander. Und für Deutschland sei der Euro wichtig. Deswegen müsse man ihn verteidigen, und deswegen müsse Schluss sein mit dem Auf-Pump-Leben in Deutschland. In anderen Ländern Europas sowieso. Deshalb sei es falsch, wie die SPD für eine „Schuldenunion“ einzutreten.

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Locker ist das alles nicht. Die „Angie“-Schilder steigen selten nach oben. Ob Arbeitsmarkt, Bildung, Forschung, Altersarmut, Stabilität des Sozialsystems, Pflegenotstand – stets geht es nach demselben Muster. Die CDU-Chefin benennt das Problem, verweist auf Fortschritte unter ihrer Regierung und sagt immer wieder: „Selbstverständlich ist das alles nicht.“ Immer in Verbindung mit dem Hinweis: Sie stehe dafür, dass es weiter aufwärts gehe. Vieles bleibt im Ungefähren: So kündigt Merkel an, dass jene, die vor zehn Jahren wegen – wie sie es darstellt – schlechter Regierungspolitik nicht studieren konnten, „in den kommenden vier Jahren eine zweite Chance bekommen sollen“. Wie? Das bleibt ungeklärt.

Übel nimmt ihr das Publikum das an diesem Abend nicht. Kurzer, aber kräftiger Applaus zum Abschied. Der Eindruck bleibt: In Calw, das war ein Heimspiel.