Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan. Foto: AP

Bei der Parlamentswahl in der Türkei am 7. Juni steht vor allem eine Frage im Zentrum: Wird Präsident Erdogan allmächtiger Herrscher – oder wird er am Ende sogar an Einfluss verlieren?

Istanbul - Nur wenige Hundert Meter trennen das Viertel Tarlabasi von jenem Hochglanz-Istanbul, wie es Touristen kennen. Und doch liegt Tarlabasi in einer ganz anderen Welt. Viele Häuser in dem Bezirk in der Nähe des zentralen Taksim-Platzes sind heruntergekommen, einige sind verlassen zerfallen zu halben Ruinen. Wenn es nach den Plänen der Stadtregierung geht, wird Tarlabasi bald dem Erdboden gleichgemacht sein und als schickes Wohn- und Geschäftsviertel wieder aufgebaut. Tarlabasi ist den Mächtigen ein Dorn im Auge – genau wie die Kurdenpartei HDP, die hier ihr Istanbuler Hauptquartier hat.

Istanbul mit seinen geschätzt 15 Millionen Einwohnern ist entscheidend für den Erfolg des Wahlkampfs der Demokratischen Partei der Völker (HDP) vor der Parlamentswahl am 7. Juni. Vor dem HDP-Gebäude in Tarlabasi flattern bunte Parteiwimpel im Wind, der vom Goldenen Horn hinüberweht. Im Eingang stapeln sich Fahnen und Plakate mit dem Bild von HDP-Chef Selahattin Demirtas in Kartons. Per Bus werden Wahlkampfhelfer von einer Veranstaltung herangekarrt, bevor sie nach kurzer Pause zur nächsten Kundgebung weiterfahren.

In einem Besprechungszimmer mit roten Plastiksesseln und kleiner Tee-Anrichte läuft ein Fernseher mit der Live-Übertragung einer HDP-Veranstaltung irgendwo in Anatolien. An der Wand hängt eine Fahne mit dem HDP-Emblem: ein Baum mit einem Stamm aus zwei Händen und einer Krone aus grünen Blättern sowie bunten Sternen, der die Freiheit symbolisieren soll.

Selcuk hat schon so manche Schlacht geschlagen

„Wir sind auf der Kippe“, sagt der Parteiveteran Cafer Selcuk vom HDP-Parteivorstand. Selcuk hat schon so manche Schlacht geschlagen. Der 58-Jährige nippt am heißen Tee. Mindestens zehn Prozent der Stimmen brauchen laut Wahlgesetz türkische Parteien, um ins Parlament von Ankara zu kommen. Das hat bisher noch keine Kurdenpartei in der Türkei geschafft. Diesmal aber könnte es klappen, weil die HDP nicht nur die Kurden anspricht, sondern auch immer mehr Erdogan-Gegner.

In den Umfragen liegt die Partei mal knapp unter, mal knapp über zehn Prozent. Aber der Trend zeigt nach oben, was Leuten wie Selcuk Auftrieb gibt – und die Regierungspartei AKP wie auch Präsident Recep Tayyip Erdogan sichtlich nervös macht.

Eine kleine Partei, die um den Parlamentseintritt zittern muss, mausert sich so zur größten politischen Herausforderung für den übermächtigen Präsidenten, der seit dem Jahr 2002 jede Wahl haushoch gewonnen hat. Sollte die HDP am 7. Juni tatsächlich erstmals die Zehn-Prozent-Hürde überspringen, zieht sie mit mindestens 60 Abgeordneten ins Parlament ein. Dann können Erdogan und die AKP ihren Plan vergessen, mit einer verfassungsändernden Mehrheit ein Präsidialsystem durchzusetzen, das dem Staatschef unbeschränkte Machtbefugnisse einräumen würde. „Wir machen dich nicht zum Präsidenten“, steht auf einem Demirtas-Plakat im HDP-Hauseingang in Tarlabasi.

Es wird mit harten Bandagen gekämpft

Der Kampf des kurdischen David gegen den Goliath Erdogan wird mit harten Bandagen ausgetragen. Anfang der Woche gingen zwei Bomben in HDP-Büros in den südtürkischen Städten Adana und Mersin hoch. Landesweit zählt die Partei bereits mehr als hundert Angriffe auf ihre Büros, Fahrzeuge oder Wahlkampfhelfer. Vor ein paar Tagen wurden drei von Selcuks Leuten in einem Istanbuler Außenbezirk zusammengeschlagen. Auf die Frage nach den Tätern zuckt er mit den Schultern. „Die kamen wohl von der AKP oder von der Zivilpolizei, was weiß ich.“

Dass die HDP überhaupt vom Parlamentseinzug träumen kann, grenzt an ein Wunder. Die Zehn-Prozent-Hürde wurde nach dem Militärputsch von 1980 eigens eingeführt, um Kurdenparteien, die sich traditionell um die sechs Prozent bewegten, aus dem Parlament fernzuhalten. Zudem wurden die Vorgänger-Parteien wegen ihrer Nähe zur Rebellengruppe PKK reihenweise verboten. Um die hohe Parlamentshürde zu umgehen, schickten die diversen Kurdenparteien ihre Politiker bei Wahlen jahrelang als nominell unabhängige Kandidaten mit Direktmandaten ins Parlament; erst nach dem Wahltag schlossen sich die Abgeordneten dann zu Kurdenfraktionen zusammen.

„Der Staat tut alles, um uns unter zehn Prozent zu drücken“, sagt Selcuk in Tarlabasi. Er hat die schlimmen Folgen des jahrzehntelangen Krieges zwischen der PKK und der türkischen Armee am eigenen Leib erfahren müssen. Selcuk stammt aus dem ostanatolischen Elazig und war gezwungen, mit seiner Familie nach Istanbul fliehen, als seine Heimat in den 1990er Jahren zum Kampfgebiet wurde.

Auch HDP-Chef Demirtas wurde in Elazig geboren, auch seine Familie verließ die Heimat. Demirtas wuchs in der inoffiziellen Kurdenhauptstadt Diyarbakir als eines von sieben Kindern einer armen Handwerkerfamilie auf. Sein Bruder Nurettin saß wegen PKK-Mitgliedschaft mehr als zehn Jahre im Gefängnis. Der HDP-Chef entschied sich als 18-Jähriger auch deshalb in die Politik zu gehen: Damals erlebte er bei einer Trauerfeier für einen von den Sicherheitskräften getöteten Kurdenpolitiker, wie die Polizei das Feuer auf die Menge eröffnete und viele Trauergäste niedermähte. „Das hat einen anderen Menschen aus mir gemacht“, sagt Demirtas. Er studierte Jura und stieg in der Kurdenbewegung auf.

Bei der Präsidentenwahl im vergangenen Jahr kandidierte der heute 42-jährige Demirtas gegen Erdogan und erzielte mit 9,8 Prozent unerwartet einen Achtungserfolg. Dieses Ergebnis machte der HDP Mut, diesmal nicht mit Einzelkandidaten bei der Parlamentswahl anzutreten, sondern als Partei ins Rennen zu gehen. Es geht um alles oder nichts – mit 9,9 Prozent hätte die HDP keinen einzigen Abgeordneten mehr im Parlament. Falls die HDP am 7. Juni den Sprung ins Parlament verfehlt, will Demirtas zurücktreten.

Derzeit jedoch stehen seine Chancen gut, am 8. Juni noch HDP-Chef zu sein, trotz der Stärke der AKP auch im Kurdengebiet. Wortgewandt wendet sich Demirtas an alle, denen Erdogans Machtansprüche allmählich unheimlich werden.

Der Präsident kennt die Gefahr und hat sich deshalb trotz der verfassungsmäßigen Verpflichtung zur parteipolitischen Neutralität als Staatspräsident in den Wahlkampf gestürzt. Mit dem Koran in der Hand warnt Erdogan die konservativen kurdischen Wähler, dem gottlosen HDP-Chef ihre Stimme zu geben. Regierungsnahe Zeitungen sekundieren.: Bei einem Wahlkampfaufenthalt in Deutschland habe Demirtas im vergangenen Jahr Schweinespeck gegessen, berichten sie in großer Aufmachung.

Im HDP-Haus in Tarlabasi regt sich niemand über den Schweinespeck auf. Diese Art von Vorwürfen seien Zeichen von reiner Panik, sagen Vorstandsmitglied Selcuk und seine Leute. Und nippen am Tee.