In Zukunft sollen sich in Stuttgart nur noch Ehrenamtliche um Kinder kümmern, deren Eltern das nicht tun können Foto: dpa

Ein junger Mann klagt, das Jugendamt habe sich nicht ausreichend um ihn gekümmert, nachdem seine Mutter gestorben ist. Die Behörde weist die Vorwürfe zwar zurück, will in Zukunft das Vorgehen in solchen Fällen aber ändern – und setzt auf die Bürger.

Stuttgart - Den September 2013 werden Ralf (Name geändert) und sein jüngerer Bruder nie vergessen. Die Mutter, die sich allein um die beiden Jugendlichen kümmerte, erlag ihrer schweren Krankheit. Plötzlich waren sie allein. Und mussten nach eigener Aussage danach schwierige Erfahrungen machen. Jetzt ist Ralf volljährig und will davon erzählen.

„Es gab Bekannte meiner Mutter, die die Vormundschaft für uns übernehmen wollten“, sagt er und schüttelt verständnislos den Kopf. Doch das Stuttgarter Jugendamt habe davon abgeraten und stattdessen einen hauptberuflichen Vormund für die beiden Jungen gesucht. Mit dem sei es ihnen aber schlecht ergangen. „Die monatlich vorgeschriebenen Treffen gab es nicht, wir hatten nichts anzuziehen, waren ein halbes Jahr lang nicht haftpflichtversichert“, klagt Ralf. „Man hat sich nicht um uns gekümmert – und beim Jugendamt hat sich niemand für uns eingesetzt“, sagt er.

Zudem fordert das Jugendamt nun einen hohen Betrag für angefallene Unterbringungskosten zurück. Ralf nahm sich daraufhin eine Anwältin. Die hat Widerspruch eingelegt und sagt: „So etwas wie diesen Fall habe ich noch nie gesehen. Da ist ein junger Mensch in einer schwierigen Situation zum Bittsteller herabgewürdigt worden.“ Das sei in Vormundschaftssachen besonders bitter, denn Kinder und Jugendliche „gehen normalerweise nicht zum Anwalt“.

Zwischen 100 und 115 Fälle gibt es pro Jahr in Stuttgart, in denen Vormundschaften und Pflegschaften notwendig werden. Bei Kindern geht es meist darum, dass die Eltern sterben oder ihnen das Sorgerecht entzogen wird. „In solchen Fällen muss das Jugendamt immer zuerst schauen, ob es im Umfeld jemanden gibt, der sich eignet“, sagt Margit Fox-Rappold, Leiterin der Dienststelle für Vormundschaften. Manchmal ist testamentarisch eine Person festgelegt.

Die Eignungsprüfung ist hart: Wer die Vormundschaft für ein Kind übernimmt, wird genau durchleuchtet. Ein persönliches Gespräch wird angesetzt, der berufliche Hintergrund betrachtet, ein makelloses polizeiliches Führungszeugnis ist nötig, auch Staatsanwaltschaft und Schuldnerkartei werden befragt. Und zuletzt muss sich der angedachte Vormund die Aufgabe auch zutrauen. Ist all das der Fall, wird er dem zuständigen Familiengericht vorgeschlagen. Wenn nicht, wird ein Berufsvormund genommen. Das sind Leute, die sich um mehrere Kinder oder Jugendliche kümmern und damit ihr Geld verdienen.

Neuerdings hat noch ein anderer Bereich an Gewicht gewonnen. Immer mehr unbegleitete minderjährige Flüchtlinge kommen in Stuttgart an. Allein im vergangenen Jahr sind es laut Jugendamt 270 gewesen. Für sie sind sogenannte Vereinsvormundschaften möglich. Die übernimmt die AG Dritte Welt, die dafür Geld bekommt. „Die Kinder werden immer jünger. Häufig haben wir hier 13-, 14-Jährige“, weiß Margit Fox-Rappold.

Im konkreten Fall der beiden Stuttgarter Jungen „können wir in keinem Punkt sagen, etwas falsch gemacht zu haben“, betont sie. Man habe intensiv nach geeigneten Vormündern aus dem Umfeld gesucht, es sei aber niemand infrage gekommen. Deshalb habe man einen Berufsvormund gewählt – mit einwandfreien Referenzen und großer Erfahrung. Beschwerden seien dem Jugendamt nicht bekannt. Und in diversen Punkten, die die Jungen vorbringen, könne man auch anderer Meinung sein. Die Kontrolle obliege dem Amtsgericht, in diesem Fall dem in Bad Cannstatt. Dort kann man aber aufgrund des schwebenden Verfahrens keine Auskünfte zum Fall geben.

Der Vormund selbst berichtet, die Jungen seien „sehr intensiv betreut worden“. Allerdings habe es viele Beteiligte aus dem Umfeld der Familie gegeben, die mitreden wollten: „Das hat die Geschichte sehr schwierig gemacht.“ Besonders Ralf sei in keiner guten Verfassung gewesen und habe finanziell überzogene Vorstellungen gehabt: „Er hatte kaum ein anderes Thema als Geld. Es war sehr schwer, mit ihm an einem Strang zu ziehen und ihm zu helfen.“

Die Rückzahlungsforderung ist laut Jugendamt eine „ganz normale Angelegenheit, wenn ein Jugendlicher volljährig wird“. Man sei dazu verpflichtet, die Betroffenen selbst für Kosten heranzuziehen, wenn Vermögenswerte vorhanden sind. Man sei Ralf dabei sogar entgegengekommen. Das Widerspruchsverfahren läuft derzeit noch.

Dennoch ist jetzt einiges in Bewegung geraten. Der jüngere der beiden Brüder hat einen neuen Vormund bekommen – und derzeit sei nicht vorgesehen, Berufsvormündern weitere Fälle zu überantworten, heißt es beim Jugendamt. Das liege aber an einer neuen Richtung, die man eingeschlagen habe. „Wir wollen hin zu Einzelvormündern“, sagt Margit Fox-Rappold. In diesem Fall kümmern sich Ehrenamtliche um jeweils nur ein Kind.

„Sie bleiben eng ans Jugendamt angebunden. Man kann sie besser betreuen als einen Berufsvormund“, sagt die Expertin. Zudem könnten Kinder so besser wählen und sich erst einen Eindruck von der jeweiligen Person verschaffen. Über dieses Programm soll an diesem Montag auch der Jugendhilfeausschuss des Gemeinderates diskutieren und geringfügige Gelder für Fortbildungen und Ehrenamtspauschalen bewilligen.

„Es geht letztendlich immer um Schicksalsschläge, die furchtbar für die Kinder sind“, sagt Margit Fox-Rappold. Oft seien in der Folge viele Leute beteiligt, aber nicht immer verbesserten viele Köche den Brei. Aus dem aktuellen Fall wolle man „lernen und in Zukunft noch genauer hinschauen“. Das hofft auch Ralf: „Ich möchte nicht, dass so etwas wie mir und meinem Bruder noch einmal jemand anderem passiert.“

Info

Einzelvormund

Ein Vormund geht die Verpflichtung ein, sich als Ersatz für die Eltern gewissenhaft um die Belange eines Minderjährigen zu kümmern. Das kann, muss aber nicht zwingend auch dessen Vermögensangelegenheiten einschließen. Hierfür kann zusätzlich ein sogenannter Ergänzungspfleger bestellt werden. Das Mündel muss auch nicht beim Vormund wohnen. Eingesetzt und überwacht wird ein Vormund von einem Familiengericht.

Die Stadt Stuttgart hat eine Kampagne gestartet, um mehr Privatleute als ehrenamtliche Einzelvormünder zu gewinnen. Sie kümmern sich jeweils um ein einzelnes Kind oder einen Jugendlichen. Aufgaben sind die Neuordnung der Lebensverhältnisse, die Betreuung im schulischen und medizinischen Bereich sowie die rechtliche Vertretung. Dabei unterstützt das Jugendamt die Vormünder intensiv. Sie bekommen für ihre Arbeit eine jährliche Aufwandsentschädigung von 399 Euro.

Bei einer ersten Informationsveranstaltung konnte die Stadt 16 Interessierte gewinnen. Bisher werden drei von ihnen als ehrenamtliche Vormünder eingesetzt. Interessenten können sich beim Jugendamt Stuttgart unter der Rufnummer 07 11 / 2 16 - 47 48 melden. (jbo)