Das Pflaster ist ein Souvenir aus der Nacht, in der er achtlos liegen gelassen wurde. Foto: Holowiecki

Wie in der Bankfiliale in Essen: In Sillenbuch ist ein 77-Jähriger an einer Bushaltestelle gestürzt. Zwei Jugendliche und eine dritte Person gingen unmittelbar vorbei, halfen aber nicht. Schlimmeres ist nicht passiert, dennoch will der Mann aufrütteln.

Sillenbuch - Dieser Fall hat in ganz Deutschland Entsetzen ausgelöst. In Essen stürzt ein 83-Jähriger im Vorraum einer Bankfiliale, verletzt sich schwer am Kopf – und mehrere Kunden lassen ihn einfach liegen, steigen sogar über ihn hinweg zum Geldautomaten. Erst 20 Minuten später setzt ein Zeuge einen Notruf ab. Der Senior stirbt schließlich im Krankenhaus. Zwei Männer und eine Frau wurden nun wegen unterlassener Hilfeleistung verurteilt. Auch ein 77-Jähriger aus Sillenbuch hat den Fall fassungslos verfolgt, „ich fand das entsetzlich“, sagt er. Dann passierte ihm vergangene Woche dasselbe. Er stürzte – und wurde einfach liegen gelassen.

Die Passanten können ihn nicht übersehen haben

Seinen Namen will der Mann nicht in der Zeitung lesen. Das alles ist ihm etwas unangenehm. Für sein Alter erscheint er sehr agil, sein ausgeprägter Wortwitz und seine adrette Kleidung lassen ihn wesentlich jünger wirken. Schnellen Schrittes bewegt sich der schlanke Rentner fort. Er ist kein Tattergreis, und die Familie solle nicht seinen Namen in der Zeitung lesen und sich Sorgen machen. Erzählen will er die Geschichte trotzdem. Um aufzurütteln.

Am vergangenen Freitag kaufte der Mann wie so oft im Sillenbucher Markt ein. Danach, gegen 21 Uhr, ging er zur Bushaltestelle „Kemnater Straße“, um die 66 nach Alt-Sillenbuch zu nehmen. Dort passierte es – er blieb in der Dunkelheit, so vermutet er, am Bordstein hängen, kippte mit schweren Taschen in den Händen um und „bremste mit dem Gesicht“, wie er sagt. Weiße Joghurtflecken auf dem Asphalt zeugen von dem Unfall. Ob er kurz ohnmächtig wurde, weiß er nicht, er fand sich mit einer blutenden Kopfverletzung am Boden wieder. Zur gleichen Zeit gingen zwei Jugendliche vorbei, erzählt er und zeigt auf den Gehsteig keine drei Meter entfernt. „Ich meine, der eine hatte ein Handy in der Hand, denn ich habe einen hellen Fleck gesehen.“ Das Duo reagierte nicht, ebenso wenig eine dritte Person, die unmittelbar neben ihm die Straße überquerte. Der Verunglückte bat nicht um Hilfe, „ich war zu sehr mit mir selbst und dem Überraschungsschmerz beschäftigt“, er weiß aber, dass die Drei ihn gesehen haben müssen. „Ich lag hier sehr dekorativ.“ Erst, als der Bus kam, wurde ihm geholfen. Der Fahrer setzte den Blutenden daheim ab; seine Vermieterin brachte ihn ins Ruiter Krankenhaus. Diagnose: Schädelprellung und eine große Schürfwunde.

Der Busfahrer wünscht gute Besserung

Während des Interviews an der Bushaltestelle kommt der Ersthelfer, der Busfahrer Jürgen Deiß, zufällig mit seinem 66er vorbei, fährt rechts ran und erkundigt sich, wie es dem Mann Tage später geht. „Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie müssen ins Krankenhaus“, ruft er, als er das große Pflaster auf dessen Stirn sieht. Nach einem „Gute Besserung“ muss er rasch weiter. Wohl nicht umsonst wurde der 56-Jährige, der für das Unternehmen GR Omnibus fährt, erst kürzlich zum Busfahrer des Jahres im Landkreis Esslingen gewählt.

So sehr der Rentner aus Sillenbuch den Fahrer lobt, so wenig Verständnis hat er für die, die ihn ignoriert haben. „Ich bedauere die, für mich sind das egoistische Krüppel. Das ist nackter Egoismus.“ Auch Ulrike Weinbrenner, die mit ihrem Mieter nachts im Krankenhaus war, ist bis heute außer sich, dass die Passanten vorbeigegangen sind. „Diese Ich-Bezogenheit, da hört’s bei mir auf.“ Sie habe sofort an den Fall in Essen denken müssen. „Essen ist auch in Sillenbuch“, sagt sie.

Der 77-Jährige will die unangenehme Geschichte hinter sich lassen. Zum Glück habe er sich ja nicht schwerer verletzt. Und Jürgen Deiß, dem Busfahrer, will er bei Gelegenheit eine Schokolade mitbringen. Als Dankeschön dafür, dass er nicht weggeschaut hat. Und auch dessen Chef Erhard Kiesel ist stolz auf seinen umsichtigen Mitarbeiter. „Ich wünsche mir, dass er als Vorbild dient.“