Die Syrer Faisal und Bahaeddin und Bogdan aus Serbien (v. li.) feilen mit Lehrerin Ilona Rupp an deutschen Wörtern Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

1400 Kinder und Jugendliche sind als Fremde ins Land gekommen und lernen zurzeit in einer Internationalen Vorbereitungsklasse vor allem Deutsch. Wir haben eine Klasse besucht und festgestellt: Nicht jeder nutzt die Chance, aber nicht jedem, der sich bemüht, ist hier eine Zukunft sicher.

Stuttgart - Faisal, Bahaeddin und Bogdan sitzen in einer Klasse in der ersten Reihe. Ihr gemeinsames Schicksal: Sie sind fremd und wissen nicht, ob sie hier eine Zukunft haben.

Momentan lernen sie vor allem die deutsche Sprache. „Gebrauanweisung“, „Gebrauchenweisung“, „Gebrauchseinweisung“, so klingen die ersten Versuche, das ewig lange Wort auszusprechen.

Viele Akzente sind zu hören: Das rollende R des langmähnigen Mädchens aus Georgien, die weiche Aussprache des jungen Mannes mit dem dunklen Tein aus Pakistan, der melodiöse Singsang der zierlichen Schülerin aus Ungarn, die ihre Haare zu einem kunstvollen Zopf geflochten hat. Viele Muttersprachen treffen in dieser Klasse an der Riedseeschule zusammen.

Die Werkrealschule im Stadtteil Möhringen macht bald dicht; zu wenig Schüler wählen diesen Schultyp noch. Das Gebäude aus den 70er Jahren trägt Spuren von tausenden Schülern. Abgewetzte Böden, abblätternde Farbe an den Heizkörpern. Jetzt ist das Haus Herberge für zwei Internationale Vorbereitungsklassen.

Alle fangen bei Null an

Zehn Jugendliche kommen im Fortgeschrittenenkurs täglich zusammen. Sie wollen alle auf eine reguläre Schule. Sie fangen alle bei Null an. Weder das, was sie in ihrer Heimat bisher gelernt haben, spielt eine Rolle, noch ihre Biografien, die so unterschiedlich sind wie ihre Landessprachen.

Bogdan, 16 Jahre alt, im Januar 2015 aus Serbien gekommen, spricht fast fließend Deutsch, wohnt mit seinen Eltern im Asylheim, zu dritt in einem Zimmer. „Der Vater ist krank, er muss zur Dialyse und er muss operiert werden“, sagt der Junge.

In Serbien hat Bogdan die Schule für Ökonomie besucht; das entspricht in Deutschland noch am ehesten einer Berufsschule. Aber seit er hier ist und sein Talent in Mathematik erkannt ist, könnte mehr daraus werden. „Bogdan besucht zusätzlich den Englisch-Unterricht am Gymnasium und vielleicht auch bald den Bilingualen Unterricht in Naturwissenschaften“, sagt Ilona Rupp anerkennend. Wenn alles gut läuft, könnte Bogdan in circa einem Jahr auf das Königin-Charlotte-Gymnasium wechseln. Einfach quer über den Hof, dann links.

„Was müsst ihr machen, wenn der Arzt sagt: Machen Sie sich frei?“, fragt Ilona Rupp, die Lehrerin. Um-, an-, ausziehen? Zügig und mit vielen praktischen Beispielen führt Rupp durch die Lektion Krankheit, Arztbesuch, Medizin. Die Schüler, alle um die 15, arbeiten fleißig mit. Kein Handy auf dem Tisch, kein Geflüster, keiner lehnt sich dösend zurück. Alle sagen in ihrer Muttersprache, was Arzt in ihrem Land heißt und tragen neue Begriffe wie Salbe oder Fieber ins Vokabelheft ein. Manche müssen auch eine neue Schrift lernen. Das Wort „Schleuser“ kennen alle.

Das Wort „Schleuser“ kennen sie alle

Bahaeddin, 14 Jahre alt, kam vor einem Jahr mit seiner Familie aus Damaskus nach Deutschland. Er wohnt mit seinen Eltern und vier jüngeren Geschwistern in einer städtischen Wohnung. „Alle lernen inzwischen Deutsch“, sagt er schüchtern, und vergewissert sich gelegentlich bei seinem Nebenmann Faisal, ob seine Wortwahl die richtige ist. Mit dem Flugzeug, erzählt er, seien sie nach Ägypten gekommen und von dort „mit Schleusern“ im Auto nach Libyen. Von dort ging es mit dem Schiff übers Meer nach Italien, später im Auto nach Deutschland. Hier, so hofft der schmale Junge, könnte sein Vater wieder arbeiten. Er ernährte als Bauunternehmer seine Familie, doch in Syrien liegt jetzt alles in Schutt und Asche.

Faisal, 16 Jahre alt, seit einem Jahr in Deutschland, lebt in einer Wohngruppe für acht minderjährige unbegleitete Flüchtlinge. Wäre er länger in seiner Heimat Syrien geblieben, hätte ihn die Armee eingezogen. Die Eltern – der Vater ist Lehrer – haben das verhindert, indem sie ihn für einige Tausend Euro nach Europa schleusen ließen. „Mutter hat ihren ganzen Schmuck verkauft in Damaskus“, erzählt er. Auch die Ersparnisse flossen in Faisals gefährlichen Weg nach Libyen. Zuletzt landete er auf einem Schiff, das mit 300 Menschen an Bord Italien ansteuerte. „Zum Glück hatte ich einen Platz oben“, sagt der Junge, der schneller erzählen will, als er Worte findet. „Unten sind manche fast gestorben.“ Wegen fehlender Lüftung. Ein Zurück gibt es nicht für Faisal, zu teuer war die Tour. Auch wenn ihm seine Eltern sehr fehlen. „Daheim ist alles kaputt.“ Er wartet sehnsüchtig auf seinen Aufenthaltstitel – seit einem Jahr.

Im Klassenzimmer nebenan büffeln zehn Anfänger seit zwei Wochen Deutsch und können sich bereits vorstellen: „Mein Name ist“, . . . „ich komme aus“ . . . Sie sind vom Balkan, aus Afrika, aus dem arabischen und dem Mittelmeerraum. Eigentlich müssten in der Klasse von Claudia Richter-Claß drei Schüler mehr sitzen. Einer davon ist Afghane: „Er hat heute morgen seine Unterkunft verlassen, ist hier aber nicht angekommen.“

Manche haben kein Interesse

In dem Satz schwingt Sorge mit. Denn die Betreuung der Flüchtlinge läuft nicht immer ideal. Der afghanische Junge, „vielleicht zwölf, vielleicht 15 Jahre alt, man weiß es nicht“, könne in seiner überfüllten Unterkunft keinen Tisch finden, um seine Hausaufgaben zu machen. Seine Mitbewohner sind junge Kerle, die ihre Kräfte messen. Das geht nicht geräuschlos, auch nachts nicht. Ein anderer Junge, gerade mal 13 Jahre alt und erst seit wenigen Wochen hier, habe sich jüngst verlaufen und nur deshalb die Schule erreicht, „weil er zufällig einem Kollegen in die Arme lief, der ihn dann mitbrachte“. Den Lehrerinnen steht die Sorge um die einsamen Jungs ins Gesicht geschrieben.

Es gibt Zustände, über die sich die engagierten Frauen ärgern: Zwei Jugendliche sind der Klasse zugeteilt, waren aber noch nie da. Ein Mädchen, das mit seiner Großfamilie im Stadtteil lebt, kommt oder kommt nicht. Die Eltern kümmert’s scheinbar nicht, und „die Betreuer in den Asylunterkünften sagen oft, sie könnten nichts dagegen machen“, erzählt Ilona Rupp. Geärgert hat sich Rektorin Ingrid Willemsen vor allem über drei Kinder und Jugendliche, die zu einer Roma-Familie gehören. „Sie sind mehrfach auf die Schulpflicht hingewiesen worden, auch mit Bußgeld belegt“, erzählt sie. Der Asylantrag der Familie sei abgelehnt, seitdem wohnt sie in einer anderen Asylunterkunft. Die schulpflichtigen Kinder aber hat bis heute keine andere Schule für sich reklamiert.

Ob Bogdan trotz seiner guten Schulleistungen hier bleiben darf, steht nicht fest; Serbien gilt als sicheres Herkunftsland. Ob Faisals und Bahaeddins Asylantrag endlich bearbeitet wird und sie nach ihrer gefährlichen Odyssee endlich sicheres Fahrwasser erreichen, ist ebenfalls offen. Es macht die Pädagoginnen ziemlich ratlos, dass die Jungs ihre Chancen optimal nutzen und trotzdem nicht wissen, ob sie nicht nur ein ähnliches Schicksal, sondern auch eine Zukunft in Deutschland haben werden.

Info

74 Vorbereitungsklassen sind in diesem Schuljahr an 36 Stuttgarter Schulen an den Start gegangen. Das sind mehr als doppelt so viele wie noch vor zwei Jahren. Die Schulpflicht beginnt sechs Monate nach der Ankunft in Deutschland.

Der Anteil der Flüchtlinge in diesen Klassen mit rund 1400 Schülern in Stuttgart betrug im vergangenen Schuljahr 37,3 Prozent. Sie stammten in der Mehrzahl vom Balkan (aus den inzwischen als sichere Herkunftsländern eingestuften Ländern Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und Serbien) sowie aus Syrien, dem Irak, dem Kosovo, Afghanistan und aus afrikanischen Staaten. Der Großteil der Schüler stammt aus Zuwandererfamilien. Es gibt 36 Klassen an Grundschulen, 38 an Haupt-, Werkreal- und anderen weiterführenden Schulen. Berufsschulen bieten Berufsvorbereitungsklassen an.

4397 Flüchtlinge lebten Ende September 2015 in Stuttgart in 18 Stadtbezirken. Ein Drittel ist unter 18 Jahre alt. (czi)