Die Schüler halten Referate über ihre Vorbilder. Es fallen für Jugendliche wenig erstaunliche Namen wir Justin Bieber oder der Fußballer Ronaldinho. Ein afghanischer Junge bewundert Martin Luther. Foto: Cedric Rehman

Beim Zuhören kann man froh sein, wenn man Deutsch nicht mehr neu lernen muss. Sieben junge Flüchtlinge besuchen in Stuttgart-Plieningen den Regelunterricht des Paracelsus-Gymnasiums – und lernen vor allem die fremde Sprache. Lust auf einen Unterrichtsbesuch?

Hohenheim - Erfan tritt vor die Klasse und nennt bei einem Referat über sein Vorbild: Martin Luther. Seine Lehrerin Anna Glaßmann ist etwas erstaunt, dass der Zwölfjährige aus dem muslimischen Afghanistan sich für den protestantischen Reformator begeistert. Aber gut, bei den Kurzreferaten fiel auch schon der Name des Sängers Justin Bieber und der von Albert Einstein. Vorbilder sind eben so unterschiedlich wie Jugendliche in oder an der Schwelle zur Pubertät.

Erfan erklärt, was ihm an Luther gefällt. Er habe in einem Video gesehen, dass der Reformator sich mit dem Papst angelegt hat. Luther habe es nicht gefallen, dass Menschen sich mit Geld von ihren Sünden freikaufen können, berichtet er der Klasse. Anna Glaßmann hakt nicht weiter nach. Sie hätte natürlich fragen können, ob Erfan von einem muslimischen Luther träumt, der etwa in Afghanistan den selbst ernannten Gotteskriegern der Taliban entgegentritt. Aber Glaßmann hält sich bewusst zurück. Sie vermeide es, ihren Schülern Diskussionen über die Verhältnisse in ihren Heimatländern aufzuzwingen, sagt sie in der Pause. Nicht nur, weil es vom Deutschunterricht ablenke. „Ich will sie auch nicht in unangenehme Situationen bringen“, sagt die Lehrerin.

Begeistert von der Boxlegende

Nach Erfan ist seine Schwester Donya an der Reihe. Sie referiert auf Deutsch die biografischen Eckdaten der Boxlegende Muhammad Ali. Als Begründung, warum sie Ali bewundert, sagt das afghanische Mädchen: „Er hat alles geschafft, aber er hat es allein gemacht.“ Mit Erfan und Donya feilen fünf weitere Schüler seit Juli in der Vorbereitungsklasse an ihrem Deutsch. Die Jugendlichen im Alter von zwölf bis 17 Jahren besuchen seit Juli das Paracelsus-Gymnasium. Sie nehmen am Regelunterricht teil und haben bereits gute Kenntnisse in der für sie fremden Sprache. Nun geht es darum, diese weiter auszubauen.

Ihre Lehrerin Anna Glaßmann hat neben ihren Fächern Geschichte, Russisch und Latein Deutsch als Fremdsprache studiert. Ein Fach, das es bereits vor dem Jahr 2015, dem Jahr der Flüchtlingskrise, gegeben hat. Die kleine Gruppe erlaubt es Glaßmann, die Fortschritte ihrer einzelnen Schüler ganz genau im Blick zu haben. Sie wisse, dass die meisten im Alltag keine Probleme mehr hätten, sich auszudrücken. Doch die wissenschaftliche Fachsprache an Gymnasien müssen oft erst gelernt werden. Wie heißt auf Deutsch etwa „Zweidrittel“? Das müssen die ausländischen Schüler wissen, damit sie im Mathematikunterricht ihrem Lehrer auch die richtige Antwort geben können.

Flüchtlinge üben den Gebrauch von Präpositionen

Hinzu kommt, dass es die eine Sache ist, sich mit Gleichaltrigen, denen die eine oder andere falsche Präposition nichts ausmacht, etwa über Fußball auszutauschen – oder einen Deutschaufsatz zu schreiben. Da muss die Grammatik sitzen. Deshalb machen die sieben Gymnasiasten bei Anna Glaßmann viele Übungen, in denen sie den richtigen Gebrauch von Präpositionen üben.

Die deutsche Sprache und ihre vielen Regeln – Anna Glaßmanns Schüler machen nicht den Eindruck, als wären sie entmutigt. Vielmehr knobeln sie an ihren Aufgaben, und wenn Glaßmann eine Frage stellt, kann sie auswählen, wenn sie drannimmt. Viele Arme strecken sich nach oben. Selbst bei der Gruppenarbeit – bekanntlich eine gute Gelegenheit für Schüler, Beschäftigung vorzutäuschen und sich vergnüglicheren Dingen zu widmen – tauschen die Schüler sich nur über Unterrichtsstoff aus. Bedarf an Disziplinierung besteht nicht.

Manche seien vor einem halben Jahr noch auf der Flucht gewesen

Nach der Stunde sagt Anna Glaßmann, dass die hohe Leistungsbereitschaft es ihr leicht mache – auch wenn der Unterricht von Deutsch als Fremdsprache eine Herausforderung ist. Sie wechselt die Perspektive: „Meine Schüler lernen die Sprache, die ihre Lehrer sprechen.“ Sie seien erst seit einem halben Jahr auf dem Gymnasium, obwohl einige davor ein Jahr auf der Flucht waren. „Das manche bei ihren ersten Halbjahreszeugnissen in Deutschland dann schon Dreier haben, finde ich bemerkenswert“, sagt Glaßmann.

Ihre Schüler sitzen in der nächsten Stunde und erfahren mehr zum Satz des Pythagoras oder der Weimarer Republik – auf Deutsch. Ihr Sprachunterricht geht pausenlos weiter.