Die Diskussionen um den Brexit drehen sich im Kreis – wie das Riesenrad in London. Foto: AFP

In Brüssel und Berlin wird um den richtigen Umgang mit Großbritannien gerungen. Die Meinungen über den richtigen Zeitpunkt einer Austrittserklärung liegen weit auseinander. Aber in einem besteht Einigkeit: Geschenke an London will niemand vergeben.

Brüssel/Berlin - Das hat es selbst auf dem Höhepunkt der Griechenland-Krise nicht gegeben: 24 Stunden vor dem Treffen der Staats- und Regierungschef können selbst EU-Diplomaten wenig darüber sagen, wie der Gipfel nach dem Brexit ablaufen soll. Es gibt kein Drehbuch. Zu unübersichtlich ist die Lage, zu wenig vorbereitet ist man in Brüssel auf die Schritte danach. Zu wenig wurde damit gerechnet. Wie sollte man sich auch vorbereiten? Das Risiko, dass Geheimpläne weitergegeben werden, ist in einer Riesenbehörde wie der EU-Kommission, für die 33 000 Mitarbeiter arbeiten, groß.

Nur langsam lichtet sich der Nebel, wie es nun weitergehen soll. Die EU-Botschafter der Mitgliedsländer haben am Sonntagabend telefoniert und erste Wegmarken festgesetzt. Zum einen setzt sich offensichtlich die Erkenntnis durch, dass es sinnlos ist, den Trennungsbrief, den Großbritannien an die EU schreiben muss, unmittelbar einzufordern. Ein EU-Diplomat sagte: „Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass es derzeit keine Autorität im Vereinigten Königreich gibt, die in der Lage wäre, den Trennungsprozess auszulösen.“

Der Druck auf Cameron wird gemindert

Damit wird der Druck auf den scheidenden Premier David Cameron gemindert. Es wird akzeptiert, dass Großbritannien erst wieder eine arbeitsfähige Regierung haben muss, bevor der Brief in Brüssel eintrifft. Unter dem Strich hat sich Angela Merkel also durchgesetzt. Sie hatte nicht so sehr aufs Tempo gedrückt, im Gegensatz zu vielen in der SPD. In Brüssel wird nun damit gerechnet, dass die Frage, wann der Brief kommt, wohl beim Abendessen der Staats- und Regierungschefs am ersten Gipfeltag erörtert werden soll. Da soll Cameron zudem einen Bericht zum Referendum und den Folgen vorlegen. Allerdings ist auch klar, dass man Großbritannien keine Verzögerungstaktik durchgehen lassen will. Die Erwartung ist, dass die Briten sich kooperativ zeigen und nicht die EU blockieren.

Beim Zeitpunkt will man also nicht so streng sein, dafür aber umso mehr in der Sache. Die Chance für die Briten, nun Nachverhandlungen über ihren Status in der EU zu starten, womöglich dabei noch Privilegien herauszuhandeln, soll es nicht geben. Erst wenn der Antrag auf Austritt eingegangen ist, beginnen die Verhandlungen über die Folgen. Sie sind auf 24 Monate angelegt. Wahrscheinlich, so hört man in Brüssel, sei, dass dabei nur die Art und Weise des Austritts definiert wird. Nicht notwendigerweise geklärt sein müsse nach den 24 Monaten, welche Beziehungen Großbritannien künftig mit der EU hat. Ein EU-Diplomat zeigte aber schon einmal die Folterinstrumente: „Klar ist, dass Großbritannien ein Drittland wird.“ Ob nach dem Vorbild von Nordkorea, der Türkei oder Norwegen, das sei Verhandlungssache. Wenn am Mittwoch, dem zweiten Gipfeltag, die Staats- und Regierungschefs wieder zusammenkommen, ist es schon ein Club der 27. David Cameron darf dann nicht mehr teilnehmen. An diesem Tag wollen die Mitgliedstaaten beraten, wie es mit der geschrumpften EU weitergehen soll. Mit konkreten Beschlüssen, einem Fahrplan gar zu einer weiteren Vertiefung, rechnet indes niemand.

Den Handelnden fehlt es an einer Strategie

Nicht nur auf EU-Ebene fällt es den Handelnden schwer, nach der Brexit-Entscheidung eine Strategie zu entwickeln. Auch in der großen Koalition in Deutschland knirscht es vernehmlich. Die SPD versucht, Kanzlerin Angela Merkel weiter vor sich herzutreiben. Die europapolitische Linie gab dabei EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) vor, der den Briten weder Rabatt noch Zeit zubilligen will und auf einen sofortigen Austrittsantrag besteht. Merkel hingegen sagte am Wochenende: „Ich würde mich jetzt auch nicht wegen einer kurzen Zeit verkämpfen.“ Außenminister Frank-Walter Steinmeier blieb am Wochenende bei einem Treffen der EU-Gründerstaaten in Berlin, flankiert von fünf Außenministern und abgestimmt vor allem mit Frankreich, zunächst im Fahrwasser von Schulz, machte Druck und forderte rasche Entscheidung. An diesem Montag mühten sich dann die Sprecher von Kanzleramt und Außenministerium zwar um eine einheitliche Linie, wobei der Sprecher Steinmeiers auf die im Grundgesetz verankerte Richtlinienkompetenz der Kanzlerin erinnerte, der sich im Kabinett bei Meinungsverschiedenheiten nun mal auch der Außenminister zu fügen hat.

Merkel selbst meldete sich erstmals an diesem Montag am Rande des Antrittsbesuchs des neuen ukrainischen Ministerpräsidenten Wladimir Groisman zu Wort. Ein Treffen, dem im Kanzleramt ein Krisengespräch mit EU-Ratspräsident Donald Tusk und schließlich ein Minigipfel mit den Staatschefs Frankreichs und Italiens, François Hollande und Matteo Renzi, folgten. Den Vorwurf, zögerlich zu reagieren, wies Merkel zurück. Man müsse da schon noch die Reihenfolge beachten, die eingehalten werden müsse. „Die Mitteilung muss von der britischen Regierung geschickt werden, und da habe ich weder eine Bremse noch habe ich da eine Beschleunigung.“

Die EU hat kein Druckmittel in der Hand

Darin spiegelt sich die Einschätzung des Kanzleramtes wider, dass die EU kein Druckmittel in der Hand habe, mit dem der Beginn des Prozesses erzwungen werden kann. Und da es zu Merkels Politikstil gehört, nichts zu fordern, was sie nicht erreichen kann, hält sie sich zurück. Dass London „jetzt eine gewisse Zeit braucht, auch erst einmal die Dinge analysiert, dafür habe ich ein gewisses Verständnis“, sagte sie. Allerdings dürfe man sich „eine dauerhafte Hängepartie nicht leisten“.

Sigmar Gabriel ist mit dieser Haltung weiterhin unzufrieden. Gabriel argwöhnt, dass Merkel sich treiben lasse, zumal eine Äußerung von Kanzleramtschef Peter Altmaier die Genossen an der Parteispitze „fassungslos“ gemacht haben soll. Altmaier hatte erklärt: „Die Politik in London sollte die Möglichkeit haben, noch einmal die Folgen eines Austritts zu überdenken.“ In seiner Funktion als SPD-Chef attackierte Gabriel eine zu zögerliche Haltung. Der Nachrichtenagentur dpa sagte Gabriel: „Das Signal der Staats- und Regierungschefs muss lauten: Klarheit statt Taktiererei.“

Flankiert wird diese Haltung von der SPD-Fraktion. Ihr außenpolitischer Sprecher, Niels Annen, sagte dieser Zeitung: „Ich habe wenig Verständnis für das Verhalten der Bundeskanzlerin.“ Europa befinde sich „wahrscheinlich in seiner schwersten Krise, und Frau Merkel taktiert. Das ist der falsche Umgang mit der Krise.“