Der Völkermord an den Armeniern jährt sich zum 100. Mal. Im Interview nimmt Grünen-Chef Cem Özdemir dazu Stellung. Foto: EPA

Interview mit Grünen-Chef Cem Özdemir zum 100. Jahrestag des Völkermords an den Armenien in der Türkei.

Herr Özdemir, am 24. April gedenken die Armenier des von Türken verübten Völkermords, der vom türkischen Staat noch immer nicht als solcher anerkannt wird – und auch nicht von der Bundesregierung.
Leider deutet nichts auf eine Änderung der deutschen Position hin. Im Gegenteil. Offensichtlich haben die deutschen Botschaften sowohl in der Türkei als auch in Armenien Anweisung, das Wort Völkermord zu meiden wie der Teufel das Weihwasser. Stattdessen wird von Massakern und Umsiedlungen gesprochen. Das ist eine Verharmlosung dessen, was damals tatsächlich stattfand.
Warum zögert die Bundesregierung aus Ihrer Sicht?
Man befürchtet Restitutionsdebatten. Schließlich hat sich Deutschland damals der unterlassenen Hilfeleistung schuldig gemacht. Die Bundesregierung sorgt sich, wie die Anerkennung des Völkermords bei der türkischen Gemeinschaft in Deutschland aufgenommen würde. Und sie nimmt auf die falschen Kreise in Ankara Rücksicht. Viele Türken haben durchaus Fragen. In Schulbüchern und Medien wird jedoch Geschichtsklitterung betrieben. Deutschland wäre prädestiniert zu helfen. Wir können dem Partner Türkei zeigen: Kein Land nimmt Schaden, wenn es sich ehrlich mit seiner Vergangenheit auseinandersetzt. Man kann daran wachsen.
Was ist Ihre Forderung an die deutsche Regierung?
Ich fordere vor allem Ehrlichkeit. Es ist an der Zeit, dass auch die Bundesregierung die Mitverantwortung des Deutschen Kaiserreiches am Völkermord an den Armeniern anerkennt und diesen als solchen bezeichnet. Da sie dies bisher nicht tut, bringen wir Grüne eine entsprechende Resolution in den Bundestag ein. Es ist zwar begrüßenswert, dass das Auswärtige Amt die Mittel für eine Aufarbeitung erhöht. Die können aber gar nicht ausgegeben werden, weil die Botschaften ja nirgendwo mitmachen dürfen, sobald das Wort Völkermord fällt. Zudem sollten die Dokumente, die es in den Archiven des Auswärtigen Amtes gibt, der innertürkischen Debatte zur Verfügung gestellt werden. Viele Türken kennen diese Dokumente nicht. Ihre Veröffentlichung würde dort eine andere Dynamik der Diskussion auslösen.
Trägt Deutschland Mitschuld? Immerhin berieten deutsche Offiziere die türkische Armee.
Es gab viele aktenkundige Klagen über den deutschen Botschafter in der Türkei, der manche genervt hat mit seinem Einsatz für die Armenier. Das zeigt zweierlei: Es gab deutsche Diplomaten, Missionare, Beobachter, die sich für die Armenier sehr einsetzten. Und es gab die erklärte Position des Kaiserreiches: Das hat uns nicht zu interessieren, das ist untergeordnet im Vergleich zum Ziel, das Osmanische Reich im Weltkrieg an unserer Seite zu behalten. Daraus ergibt sich zwingend eine deutsche Mitverantwortung.
Belastet das Zögern der Bundesregierung unser Verhältnis zu Armenien?
Zumindest stößt es dort auf Unverständnis. Ich habe den Eindruck, das Auswärtige Amt hat die strategische Entscheidung getroffen, dass der östliche Nachbar Aserbaidschan – aufgrund der Rohstoffvorräte – wichtiger ist. Und auch der Nato-Partner Türkei. Aber Armenien alleinzulassen und sich nicht für einen Ausgleich und Versöhnungsprozess zwischen Armenien, Aserbaidschan und der Türkei einzusetzen, halte ich für einen großen Fehler – aus geostrategischen Gründen.
Inwiefern?
Es kann nicht im deutschen Interesse liegen, dass Armenien weiter in die Arme Moskaus getrieben wird. Schon heute entwickelt sich die armenische Regierung zu einem autoritären Regime. Dabei fühlt sich die Mehrheit der Bevölkerung Europa verbunden. Ankara hätte den Schlüssel in der Hand, Armenien an Europa zu binden. Dabei sollten wir Ankara helfen.
Was würde sich denn ändern, wenn die Türken ihr Verhältnis zu Eriwan entkrampften?
Das würde die Spielregeln komplett ändern. Eine offene Grenze der Türkei zu Armenien hätte wichtige Investitionen der türkischen Wirtschaft in Armenien zur Folge. Das würde die Abhängigkeit von Russland deutlich reduzieren. Auch in den festgefahrenen Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um Berg-Karabach käme neue Bewegung. Wenn nämlich die Türkei endlich zu beiden Seiten normale Beziehungen unterhalten würde, könnte sie auch als Vermittler tätig werden. Auch das würde den Einfluss Moskaus zurückdrängen. Unter dem Strich wären normalisierte Beziehungen zwischen Ankara und Eriwan für Armenien eine Brücke nach Europa. Überall also nur Gewinner – der einzige Verlierer hieße Wladimir Putin. Stattdessen kann er sich im Moment darüber freuen, dass Armenien sich gegen ein Assoziierungsabkommen mit der EU und für die eurasische Wirtschaftsunion unter Moskauer Führung ausgesprochen hat.
Was würde sich in der Türkei durch eine Anerkennung des Völkermords ändern?
Sehr viel. Man könnte endlich darüber reden, dass die Jungtürken damals keine Helden, sondern Kriegsverbrecher waren, die mit ihrer katastrophalen Politik das Ende des Osmanischen Reiches besiegelt haben. Es gibt keinen Grund, auf diese Totengräber des Osmanischen Reiches stolz zu sein. Ein verändertes Geschichtsbild wäre eine Bedingung für eine Modernisierung der türkischen Gesellschaft. Die Türkei will in die EU. Eine Neubesinnung in der Armenien-Frage wäre ein Schritt auf Europa zu.
Will Erdogan das überhaupt?
Er hätte die Macht dazu. Aber ihm fehlt es wohl an Vision und an Mut. Die Gesellschaft würde ihm folgen. In seinen Überlegungen spielt die EU-Mitgliedschaft der Türkei offensichtlich keine Rolle mehr. Trotzdem glaube ich, dass wir die EU-Option nicht vom Tisch nehmen sollen. Gerade diejenigen, die in der Türkei unter der autoritären Politik Erdogans leiden, richten ihren Blick verstärkt nach Brüssel. Das sollten wir ernst nehmen.