Außenminister Mevlut Cavusoglu ist zufrieden mit der Annäherung an die EU. Foto: AP

Geschäfte mit der Türkei? Die Empörung ist groß. Dabei vermischen viele, die sich ablehnend zu Wort melden, die Dinge, kommentiert Markus Grabitz. Im Streit der Europäer über die Visumpflicht der Türken steckt mehr.

Brüssel - Die Empörung ist groß. Geschäfte machen mit der Türkei? Im Sommer könnte die Visumpflicht für die Türkei fallen. Wie bitte? Diesen Erfolg wollen viele Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan nicht gönnen. Diesem Oberbefehlshaber einer gelenkten Demokratie, der mit Kritik im In- und Ausland nicht umgehen kann. Der die Kurden und die Opposition schlecht behandelt. Jetzt kommen noch Berichte hinzu, der türkische Regierungschef, Ministerpräsident Ahmed Davutoglu, sei von Erdogan so genervt ist, dass er die Brocken hinschmeißen will.

Viele, die sich ablehnend zu Wort melden, vermischen die Dinge. Es werden Vorurteile gegenüber Türken bedient und Ängste vor Zuwanderung aus Kleinanatolien geschürt. Die Türkei hat etwa 75 Millionen Einwohner. Nur ein Zehntel davon verfügt über einen Reisepass, der Voraussetzung ist für eine Einreise in die EU. Reisedokumente in der Türkei haben aber vor allem Geschäftsreisende. Bei Unternehmern muss man aber nicht unbedingt davon ausgehen, dass sie als Migranten in der EU auftauchen und die Sozialsysteme belasten.

Nicht vergessen werden darf zudem: Die EU ist bei der Türkei im Wort. Schon seit Jahren verhandeln beide Seiten über Visum-Erleichterungen. Die Türkei hat sich als zuverlässiger Partner in der Flüchtlingsfrage gezeigt. Wie es aussieht, gelingt es EU und Türkei gemeinsam, den Menschenhändlern in der Ägäis das Handwerk zu legen. Die EU hat der Türkei zugesagt, im Gegenzug Visum-Erleichterungen wohlwollend zu prüfen. Wohl gemerkt: Es wird geprüft, ob die Türkei den Katalog von 72 Kriterien abarbeitet, den ihr die Europäer auferlegt hat. Es geht hier nicht um einen Gnadenakt der EU. Wenn die 72 Kapitel erledigt sind – darunter sind Punkte wie der Schutz von Flüchtlingen in der Türkei, Korruptionsbekämpfung und Rechte der Opposition – dann muss die Visumspflicht fallen.

Falsche Vorstellungen

Im Übrigen ist die Vorstellung falsch, dass die Schleusen in die EU unwiederbringlich geöffnet würden. Die Visumpflicht kann jederzeit wieder eingeführt werden. Etwa, wenn die illegale Migration anschwellen oder sich die Türkei nicht an die Spielregeln halten würde.

Im Streit der Europäer über die Visumpflicht der Türken steckt mehr. Es geht dabei auch um die künftige Ausrichtung der EU. Nach etlichen Erweiterungsrunden wirkt die EU der 28 erschöpft. Das alte Mantra, noch mehr Länder aufnehmen und noch mehr Kompetenzen nach Brüssel geben, funktioniert nicht mehr. Die EU steckt in der Sinnkrise, die Beziehungen zwischen Ankara und Brüssel geben da Orientierung. Der Zug für die Aufnahme der Türkei in der EU ist abgefahren. Aber, Flüchtlingsdeal und Visum-Frage zeigen, dass es lohnt, wenn Türkei und EU miteinander reden. Beide Seiten profitieren, auch wenn es schwierig ist. Es zeigt sich, dass eben doch etwas geht zwischen den Nachbarn.

Man muss es anerkennen: Zumindest auf dem Papier, bei den Gesetzen, die in der Türkei verabschiedet werden, gibt es auch handfeste Verbesserungen bei den Menschenrechten. Ja, die Fortschritte mögen nicht alle zufrieden stellen, sie sind aber da. Früher nannte man so ein Verhältnis privilegierte Partnerschaft. Auch die Ukraine und Marokko klopfen an die Tür der EU, pochen auf Mitsprache. Alle wissen: An eine EU-Mitgliedschaft ist in absehbarer Zeit nicht zu denken. Wohl aber an ein Verhältnis wie zwischen guten Nachbarn. Was EU und Türkei gerade einüben, hat Modellcharakter. Die Hand über den Gartenzaun hinweg darf nicht zurück gewiesen werden.