Vedad Ibisevic - eine Lebensgeschichte zwischen Himmel und Hölle, voller Traurigkeit, aber auch beglückender Erlebnisse. Foto: Pressefoto Baumann

Wenn Stars im reifen Alter ihre Biografie vorlegen, haben sie womöglich nicht so viel zu erzählen wie Vedad Ibisevic mit seinen 28 Jahren. „Mein Leben war zum Verrücktwerden“, sagt der Stürmer des VfB Stuttgart. Das Verrückte: Er ist trotzdem erfrischend normal geblieben.

Stuttgart - Wenn Vedad Ibisevic über das Leben philosophiert, kommt dabei viel Kluges heraus. Da stecken viel Erfahrung und viel Weisheit dahinter. So sagt er: „Man kann keine schönen Zeiten erleben, ohne zuvor gelitten zu haben.“ Oder: „Todesangst relativiert alles im Leben.“ Und so sehr für einen Fußballer Siege zählen – es gibt immer noch Wichtigeres. „Wenn ich keine Titel gewinne, mag es schlimm sein. Aber mein Leben war viel schlimmer als das. Dass ich dabei normal geblieben bin, ist wie ein Titel für mich.“

Und dann beginnt er seine Stationen aufzuzählen – eine Lebensgeschichte zwischen Himmel und Hölle, voller Traurigkeit, aber auch beglückender Erlebnisse. Die Odyssee von Bosnien über die Schweiz, USA und Frankreich bis nach Stuttgart handelt von Verzweiflung. Von Hoffnung. Von Liebe.

Vlasenica: In der bosnischen Kleinstadt kommt Ibisevic 1984 zur Welt und erlebt anfangs eine behütete Kindheit. Wenn Vater Saban und Mutter Mirsada zur Arbeit gehen, geben sie Klein Vedad bei dessen Großeltern ab. Die führen einen Bauernhof. Vedad wächst mit vielen Tieren auf, riecht den Kuhmist, spielt mit Gleichaltrigen: „Dass meine Großeltern kein einfaches Leben hatten und viel arbeiten mussten, war mir nicht bewusst. Für mich war alles super.“ Als er fünf ist, kommt seine Schwester Vedada zur Welt.

Tuzla: Als 1992 der Bosnien-Krieg beginnt, ist Vedad sieben Jahre alt und besucht die erste Schulklasse. Als die ersten Bomben fallen, lässt die Familie Haus und Hof und Vedad seine Spielkameraden hinter sich. Sie flüchten nach Tuzla, Vedad ist ein begeisterter Fußballer: „Wir haben mit kaputten Schuhen gespielt. Wenn es kalt war oder schneite, haben wir Plastiktüten drübergezogen.“ Ibisevic erinnert sich an viele Bombennächte im Keller, an Hunger und Angst. Todesangst. „Ich habe alles mitbekommen. Es war schrecklich, aber aus heutiger Sicht ist alles noch schrecklicher. Erst später wurde mir bewusst, was alles hätte passieren können.“

Nach dem Kriegsende 1995 organisiert sein Vater einen kleinen Lastwagen und verdient sich Geld mit Kurierfahrten. Eine Perspektive kann er der Familie damit nicht bieten. „Für meine Mutter war diese Phase noch schwieriger. Sie hatte keine Arbeit, aber sie tat alles, damit wir in normalen Verhältnissen aufwachsen konnten.“ Dafür ist Vedad ihr bis heute dankbar: „Meine Eltern haben mich liebevoll aufgezogen, trotz aller Wirren. Dafür empfinde ich Liebe undgroßen Respekt.“

Baden: 2000 zieht Vedad mit der Familie zu seinem Onkel in die Schweiz, allerdings ohne dauerhafte Aufenthaltserlaubnis. Die Familie weiß: Über kurz oder lange muss sie weiterziehen. Wenigstens kehrt der Fußball in sein Leben zurück: Er trainiert beim FC Aarau, wechselt bald zum FC Baden. „Die Ungewissheit, ob wir bleiben, machte uns das Leben schwer. Es war nicht möglich, die Zukunft zu planen.“ Statt eine Schule zubesuchen, belegt er Deutschkurse. St. Louis: Über Verwandte entsteht 2001 ein Kontakt nach St. Louis. Nach zehn Monaten in der Schweiz zieht die Familie um. Für den Fußballer Ibisevic ist das ein Gräuel: „Ich wusste, dass der Fußball in Amerika keinen großen Stellenwert hat.“ Vedad fügt sich, „weil ich es meinen Eltern nicht noch schwerer machen wollte“. In St. Louis taucht er „in eine ganz andere Welt“ ein. Der ungewohnte Luxus um ihn herum ist für die Neuankömmlinge unerreichbar. In der Roosevelt High School, die er besucht, „hatte Fußball kein hohes Niveau“. Um sich seinen Profi-Traum zu erfüllen, muss er in ein Universitätsteam. Ein Trainer der St. Louis University erkennt sein Talent, doch die 40 000 Dollar Studiengebühren im Jahr kann seine Familie unmöglich aufbringen. Ibisevicergattert ein Stipendium. Eine glückliche Fügung – nicht die einzige in seinem Leben.

In den Semesterferien spielt Ibisevic in einer Amateurliga für die Reserve der Chicago Fire, 2002 wird er zum Rookie of the Year, zum besten Nachwuchsspieler der USA, gewählt. Bosniens U-21-Nationaltrainer lädt ihn ein: Ibisevic feiert sein Debüt im Nationaltrikot. Den Flug von St. Louis nach Bosnien zum zweiten Spiel zahlt er aus eigener Tasche, sitzt aber zunächst auf der Ersatzbank und entscheidet: „Da spiele ich nie mehr.“ Kurz vor Schluss wird er eingewechselt und erzielt ein Tor. Weil an jenem Tag das Stadion eingeweiht wird, sitzen der heutige Uefa-Präsident Michel Platini und etliche Scouts auf der Tribüne. Platini lässt ihn beglückwünschen. „Plötzlich riefen wildfremde Leute an, wollten mich verpflichten oder beraten.“ Ibisevic bekommt Angebote von Hajduk Split und Roter Stern Belgrad, „aber ich wollte in eine der großen Ligen“.

Paris: Der Wunsch wird rasch Realität. Paris St. Germain lädt ihn 2004 zum Probetraining ein, er bestreitet ein Testspiel. Als die Uni St. Louis davon Wind bekommt, verliert er sein Stipendium in den USA: „Die waren entrüstet. Die wussten gar nicht, wo ich war.“ Bei St. Germain ist Ibisevic der vierte Ausländer im Kader, erlaubt sind drei. Der dritte ist ein Brasilianer auf Heimaturlaub. Ibisevic hofft, er bliebe fort. Doch da täuscht er sich.

Dijon: Ibisevic lebt allein in Paris. Seine Eltern und seine Schwester wohnen bis heute in St. Louis. Zwei Tage vor Transferschluss leiht ihn Paris im Januar 2005 nach Dijon aus, ein böses Erwachen: „In Paris saß ich im Champions-League-Spiel gegen den FC Chelsea auf der Bank, und plötzlich sollte ich in der zweiten Liga spielen!“ Er übersteht die Saison, kehrt nach Paris zurück, „doch dort gab es einen neuen Vorstand, der hatte mich vergessen“. Sein Vertrag wird aufgelöst.

Aachen: Ibisevic hat inzwischen seinen Berater Andreas Sadlo kennengelernt. Er vermittelt ihn im Juli 2006 zu Alemannia Aachen. Die erste Saison endet mit dem Abstieg aus der Bundesliga. Ibisevic hat wieder Glück: 1899 Hoffenheim nimmt ihn unter Vertrag.

Hoffenheim: Im Kraichgau wirbeln 2007 Chinedu Obasi und Demba Ba im Angriff. Ibisevic bleibt unter den Erwartungen und ist nur Ersatz. Erst nach dem Aufstieg 2008, als Obasi mit Nigeria zu Olympia nach Peking reist, bekommt er eine Chance. In der Hinrunde erzielt er sagenhafte 1. Bundesligatore. Hoffenheim wird Herbstmeister, wieder liegen Glück und Pech beieinander: Mit einem Kreuzbandriss fällt Ibisevic im Januar 2009 ein halbes Jahr aus. Er kommt zurück, sein Co-Trainer Peter Zeidler bewundert seinen unbändigen Ehrgeiz: „Vedad lässt sich durch nichts unterkriegen.“ Ibisevic bleibt bescheiden: „Ich kann mich überall verbessern – das Kopfballspiel, die Vorlagen, das Kombinationsspiel, das Zweikampfverhalten, meinen linken Fuß und so weiter.“

Stuttgart: Seit seinem Wechsel zum VfB im Januar 2012 ist Ibisevic eine Tormaschine. In 30 Bundesligaspielen für den VfB hat er 18 Treffer erzielt, darunter im Dezember alle drei beim 3:1 gegen Schalke. Beim VfB loben sie seine Bescheidenheit. Die zeichnet ihn, neben Talent und Zielstrebigkeit, im Fußball wie im Leben aus: „Ich bin keiner, der nur auf Party macht.“ Als gläubiger Moslem betet er fünfmal am Tag. Er spricht fließend Bosnisch, Deutsch, Englisch und Französisch und liebt schnelle Autos, sagt aber: „Ich denke fünfmal mehr als andere darüber nach, ob ich mir so einen Schlitten kaufen soll. Denn ich weiß, andere Familien brauchen etwas zu essen oder ein Dach überm Kopf.“ Wenn er Jungprofis im dicken Daimler vorfahren sieht, denkt er sich: „Ohne so eine Karre würden die vielleicht eine bessere Karriere machen. Dann würden sie sich auf das Wesentliche konzentrieren.“

Der Kontakt zu seiner Familie ist eng, seine Schwester Vedada besucht ihn zu Weihnachten 2012. Drei Jahre zuvor ist seine Jugendliebe Zerina zu ihm nach Bad Rappenau gezogen. Sie heiraten, vor eineinhalb Jahren kommt Sohn Ismail zur Welt. Was er ihm vermitteln will? „Der Krieg“, sagt Ibisevic, „hat mich härter und stärker gemacht. Mein ganzes Leben war ein Kampf. Deshalb habe ich Angst, dass ich ihn falsch erziehe. Aber das Leben hat mir auch im Positiven gezeigt, was möglich ist. Ich will Ismail beibringen, dass vieles nicht selbstverständlich ist. Aber er soll auch ein fröhliches Kind werden.“

Demut und Liebe überdauern alles. Wer wüsste das nicht besser als Vedad Ibisevic?