Fassungslos: Antonio Rüdiger (Mitte, mit Schiri Tobias Welz und Rafael van der Vaart/HSV) Foto: Bongarts/Getty

Mit seinen 20 Jahren hat Antonio Rüdiger einen dornigen Weg hinter sich. Der Verteidiger des VfB Stuttgart musste sich früh behaupten. Das prägt sein Spiel. Es schadet ihm aber auch – weil er seine Emotionen nicht im Griff hat.

Stuttgart - Die Stunden danach sind die Hölle für Antonio Rüdiger gewesen. Als er nach dem Abpfiff in der Kabine saß, ist für ihn „eine Welt zusammengebrochen“. Die Mitspieler versuchten ihn zu trösten, doch ihre Worte verhallten. „Ich habe einen großen Fehler gemacht“, sagt Rüdiger.

Auch am Tag danach ist der Innenverteidiger noch sichtlich gezeichnet. Gezeichnet von der Roten Karte beim 3:3 in Hamburg, gezeichnet von der Schmach, die er auf sich geladen hat, vom Schaden, den er der Mannschaft zugefügt hat. Und vom Entsetzen darüber, dass er sich seinen Stammplatz kaputt gemacht hat. „Ich habe nicht gut geschlafen“, sagt Rüdiger, „ich bin von mir enttäuscht. Die Mannschaft, der Verein, die Fans, der Trainer – das bedeutet mir so viel. Aber ich habe alle im Stich gelassen. Dafür habe ich einen fetten Denkzettel erhalten.“

Rot! Der zweite Platzverweis seit Mai!

Eine Dummheit, sagen jetzt alle. Oder: Der lernt es nie. Rüdiger weiß um das Gerede. Er weiß auch, dass er anders ist als andere. Mutiger, härter, kompromissloser. Andererseits ist er ein herzensguter Kerl. Ehrlich, offen, lustig. Das sind seine zwei Seiten. Zuweilen passen sie einfach nicht zusammen.

„Das war nicht bösartig, aber es fällt unter die Rubrik Tätlichkeit“

Dann passiert das, was Jürgen Kramny, sein langjähriger Trainer bei der VfB-U-19 und beim VfB II, so beschreibt: „Dann macht Toni Dinge, die er nicht machen möchte.“

So wie der lange Fuß, mit dem er im Mai den Fürther Felix Klaus stolpern ließ. Oder wie der Leberhaken, den er am Sonntag Rafael van der Vaart verpasste. Der Niederländer hatte ihn provoziert, mit Worten und Gesten. Hatte „herumgepöbelt“, wie Rüdiger sagt, und sich theatralisch fallen lassen. „Das war ein Reflex von mir, er hat mir zuvor einen Ellbogencheck verpasst“, sagt Rüdiger. Ein Treter ist er nicht, eher zuweilen überdreht. Ein Hitzkopf. „Das war nicht bösartig, aber es fällt unter die Rubrik Tätlichkeit“, sagt sein Berater Uli Ferber, „das sind die Regeln, die muss er lernen.“

In solchen Augenblicken steht Antonio Rüdiger neben sich, kennt sich selbst kaum mehr. Dann wird der Kämpfer zum Krieger, dann überschreitet er eine unsichtbare Schwelle, die ihm offenbar Angst bereitet. „Ich bin auf Hilfe angewiesen“, sagt Rüdiger, „und ich bin auch ein Mensch, der Hilfe annimmt.“ Lauter kann ein Ruf nach Unterstützung kaum sein.

Und immer Kampf, Kampf, immer Kampf

Mit 15 Jahren hatte er sein Elternhaus in Berlin-Neukölln verlassen: Mutter Lilly, die aus Sierra Leone stammt, Vater Matthias, seine vier Schwestern und seinen Bruder. Rüdiger wechselte zu Borussia Dortmund, wuchs bei Gasteltern auf. Mit 17 Jahren zog es ihn zum VfB. Beim BVB waren sie mächtig sauer, der Club gab ihn zu spät frei, Rüdiger war ein halbes Jahr gesperrt, konnte nur mit der U 19 trainieren. Erst dann begann sein Aufstieg: VfB II, VfB-Profis, erst Ersatz, dann Joker, zuletzt Stammspieler. Dazwischen zeichnete ihn der Deutsche Fußball-Bund (DFB) als Jahrgangsbesten mit der Fritz-Walter-Medaille aus. Und immer Kampf, Kampf, immer Kampf.

Das hat ihn geprägt, deshalb sagt er Sätze wie: „Ich bin keiner, der zurücksteckt.“ Oder: „Ich lasse mir nichts gefallen.“ Oder: „Ich habe vor niemand Angst.“ Das klingt martialischer, als es gemeint ist. „Toni nimmt Dinge in Kauf, die kaum ein anderer in Kauf nimmt – zum Beispiel das halbe Jahr Sperre“, sagt Kramny, „wenn er sich etwas in den Kopf setzt, zieht er das durch.“ Das macht ihn stark – einerseits. Doch Kramny erinnert sich auch „an Momente im Training, bei denen er übers Ziel hinausgeschossen ist. Das muss er kanalisieren.“

Wie? Gute Frage. Uli Ferber, sein Berater, hat schon am Sonntagabend damit begonnen. Er hat ihn angerufen, lange mit ihm gesprochen. Am Montagmorgen hat er ihn wieder angerufen, wieder lange mit ihm gesprochen. Am Montagabend haben sich die beiden getroffen – und noch länger miteinander gesprochen. „Das ist eine Frage der Erfahrung und der Cleverness“, sagt Ferber, „Toni hat kein mentales Problem. Wenn er noch mal 20 Bundesligaspiele gemacht hat, dann hat er die Erfahrung. In ein, zwei Jahren passiert ihm das nicht mehr.“ Dann hätte der Hitzkopf seine Lektion gelernt.