Die Leonhardkirche wird vom 18. Januar bis zum 7. März wieder zur Vesperkirche Foto: Leif Piechowski

Die Vesperkirche soll Armen helfen. Aber ein weiterer Aspekt ist dem evangelischen Stadtdekan Søren Schwesig beinahe wichtiger: „Wir können in den sieben Wochen Vesperkirche die Not dieser Menschen nicht aufheben. Aber wir können die Armut sichtbar machen.“

Stuttgart - Armut wird in der Landeshauptstadt an jeder Ecke sichtbar. Wer durch die City flaniert, wird täglich damit konfrontiert: Bettler auf der Königstraße, Wohnsitzlose in der Passage am Rotebühlplatz oder unter der Paulinenbrücke.

Eher im Verborgenen spielt sich eine andere Form der Armut ab. Sie betrifft Familien ebenso wie ältere Menschen. „Man sieht es ihnen nicht direkt an“, sagt Vesperkirchen-Pfarrerin Karin Ott, „aber sie stehen vor dem Nichts.“

Jenen zu helfen ist eine Aufgabe der Vesperkirche, die im kommenden Jahr vom 18. Januar bis zum 7. März stattfindet. Aber ein weiterer Aspekt ist dem evangelischen Stadtdekan Søren Schwesig beinahe wichtiger: „Wir können in den sieben Wochen Vesperkirche die Not dieser Menschen nicht aufheben. Aber wir können die Armut sichtbar machen.“

Karin Ott weiß aus vielen Begegnungen mit ihren Gästen in der Leonhardskirche, was sich unter dem Mantel der Scham verbirgt: Es ist die Not, die sich nach zehn Jahren Hartz IV verfestigt hat. Alle Reserven, so es welche gab, seien nach Jahren mit Hartz IV aufgebraucht. Ott nennt das einen „Renovierungsstau“. Es fehlt das Geld, um beispielsweise durchgelegene Matratzen zu ersetzen, neue Schuhe zu kaufen oder die Stromnachzahlung zu begleichen. Plakativ ausgedrückt: Geldbeutel und Kühlschrank leer, Windeln voll. Die materielle Not ist aber nur die eine Seite dieser Medaille. Zehn Jahre Leben unter Hartz-IV-Bedingungen hätten auch „tiefe Spuren und Verwundungen der Seele hinterlassen“, so Ott.

Was damals unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) unter dem Projekt-Titel „Agenda 2010“ eingeführt wurde, betrifft heute 39 000 Stuttgarter, darunter 11 000 Kinder. „Diese Zahl hat sich seither kaum verändert“, sagt Karin Ott. Soll heißen: Diese Form der Armut hat sich in der Stadt verfestigt und wird nur noch unterschwellig wahrgenommen. Nur einmal im Jahr werde der „Skandal der Armut“ (Schwesig) durch die Vesperkirche richtig sichtbar. In diesem Sinne schärft die Vesperkirche das Bewusstsein. Auch innerhalb der Kirche. „Ich glaube, dass die Vesperkirche auch die Kirche insgesamt verändert“, sagt Schwesig und zielt dabei auch auf die Veränderung in der Haltung aller Christen der Stadt.

Seine These lautet: Hilfe werde auch mit den abstrakten bürgerlichen Strukturen gleichgesetzt. Zum Beispiel die Leistungen der Eva oder der Diakonie. Manchmal enden sie auch an den Grenzen des jeweiligen Sprengels. Die Vesperkirche zeige aber immer wieder, dass Armut und Not des Nächsten jeden angingen. Sie wird konkret.

So eine Veränderung erleben alle Vesperkirchen-Mitarbeiter, ob haupt- oder ehrenamtlich, bei ihrem Einsatz besonders intensiv. „Vesperkirche macht etwas mit den Mitarbeitenden“, sagt Karin Ott, „die Grenzen zwischen Geben und Nehmen verschwimmen.“ Die Begegnung mit den bedürftigen Gästen und deren Lebensgeschichten sei für alle Mitarbeiter der Vesperkirche sehr bereichernd. Mehr noch: „Manchmal fühlen wir uns, die für die Vesperkirche arbeiten, sehr armselig.“