Ein Unfall bei Esslingen (2006) Foto: dpa

Polizeigewerkschaft und Arbeitsgemeinschaft der Notärzte beklagen eine Verrohung der Sitten.

Stuttgart - Zwei Fälle aus der jüngeren Vergangenheit sind dem Leiter der Freiburger Autobahnpolizei besonders schmerzlich in Erinnerung. Einmal, als nach einer Vollsperrung auf der A 5 im März vergangenen Jahres Autofahrer auf dem Standstreifen der Gegenfahrbahn anhielten, um sich die Massenkarambolage in Ruhe und aus der Nähe anzusehen. Ein zweites Mal wenig später, als ebenfalls auf der A 5 bei Freiburg unbeteiligte Verkehrsteilnehmer zu Fuß zur Unfallstelle vorpreschten, um Fotos zu schießen und Videos zu drehen – die dann wenig später auch den Medien angeboten wurden.

„Das hat das Fass zum Überlaufen gebracht“, echauffiert sich Heinz Siefert. In beiden Fällen seien seine Kollegen aktiv geworden, erinnert sich der Polizist. Die Gaffer von der Gegenfahrbahn wurden fotografiert und zu 30 Euro Bußgeld verdonnert – wegen „unzulässigen Anhaltens auf Kraftfahrtstraßen“. Diejenigen, die sich zu Fuß der Unfallstelle genähert hatten, erhielten einen Platzverweis. „Wirklich getroffen hat das aber niemanden“, sagt Siefert und seufzt. Er weiß: Sensationslust ist rechtlich und polizeilich kaum beizukommen.

Dabei wird das Problem im Zeitalter von Smartphone, You Tube und Co. immer größer, wie nicht nur der Leiter der Freiburger Autobahnpolizei weiß. Auch der Landesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Joachim Lautensack, sieht die Hemmschwelle vieler Gaffer im Sinkflug: „Es ist ein Drama, was sich da bisweilen abspielt.“ Lautensack berichtet, dass mittlerweile bei fast allen Einsatzlagen das Handy gezückt wird. Hauptsache Blut und Blech. In vielen Videos, die ins Internet gestellt werden, sind Leichen und Leichenteile zu sehen. „Viele Kollegen fühlen sich beobachtet und bei ihrer Arbeit beeinträchtigt. Man weiß ja nie, was mit den Bildern hinterher passiert“, sagt Lautensack.

Gaffer behindern Rettungsarbeiten

Nicht nur beeinträchtigt, sondern direkt behindert sehen sich oftmals die Ärzte am Einsatzort. Laut Arbeitsgemeinschaft der Notärzte werden in jedem fünften Einsatz Rettungsdienste durch Schaulustige an der Arbeit gehindert. Jedes sechste Unfallopfer gerate dadurch zusätzlich in Gefahr. Peter Sefrin aus Würzburg, der seit 40 Jahren im Einsatz auf der Straße ist, spricht von einer Verrohung der Sitten. „Neu ist, dass Unbeteiligte in aggressiver Weise den Helfern gegenüber auftreten. Häufig werden Retter durch demotivierende Kommentare bedrängt, die Vorwürfe enthalten.“

Laut einer Untersuchung der Bundesanstalt für Straßenwesen behindern bei rund drei Vierteln aller Unfälle Gaffer die Rettungs- und Aufräumarbeiten. Die Ruhruni Bochum will zum Verhalten bei Unfällen herausgefunden haben, dass 80 Prozent der Deutschen potenzielle Gaffer sind. Was sich mit der psychologischen Erkenntnis deckt, wonach Sensationslust auf die Grundtugend Neugier zurückführen ist, die in jedem von uns steckt.

Aber ist die Sensationslust heute tatsächlich größer als früher? Der ADAC-Verkehrspsychologe Ulrich Chiellino meint: „Schaulust gab es immer. Aber früher hat man nicht so viel mitgekriegt wie heute in Nachrichten, Filmen und Fernsehen. Dort sind ständig sensationelle oder schreckliche Dinge zu sehen. Das lässt die Hemmschwelle sinken und das Schamgefühl verloren gehen.“

„Egal wie, die Leute wollen nah dran sein“

„Ausfluss des Voyeurismus ist der Anspruch, Unglücke möglichst unmittelbar zu erleben“, ergänzt Notarzt Sefrin. Gerade Jugendliche haben aus seiner Beobachtung durch den Konsum von bildhaften Darstellungen den Abstand zum persönlichen Leid der Unfallopfer verloren. „Egal wie, die Leute wollen nah dran sein.“

Nur: Was dagegen tun? Aus Berlin und Schleswig-Holstein kommt die Forderung, Gaffer und Behinderer stärker zu bestrafen. Dabei sieht das Gesetz bereits eine Reihe von Möglichkeiten vor. Wer etwa auf dem Pannenstreifen aus der Ferne zusieht und damit den Rettungsweg blockiert, muss mit einer Strafe von 30 Euro rechnen. Werden die reinen Rettungsarbeiten behindert, sind 40 Euro fällig. Je nach Schwere der Behinderung kann die Strafe bis auf 5000 Euro aufgestockt werden – im äußersten Fall droht sogar eine Haftstrafe.

In der Praxis sind die Strafen allerdings stumpfe Schwerter. „Wir können nicht parallel zur Unfallaufnahme auch noch ein Observationsteam einsetzen“, sagt Polizeigewerkschafter Lautensack. Die Beamten hätten mit der eigentlichen Arbeit genug zu tun. Und was das Filmen und Fotografieren angeht: Das lässt sich nicht so ohne weiteres verbieten. Zwar gilt auch bei Unfällen das Recht am eigenen Bild. Aber in den meisten Fällen haben die Betroffenen und Angehörigen in dem Moment andere Sorgen.