Mit der S-Bahn zu fahren, macht angeblich schlank Foto: Max Kovalenko

Wer täglich weite Strecken zur Arbeit zurücklegt, verliert Zeit und Nerven. Doch das Pendeln kann auch krank und unglücklich machen, warnt die Krankenkasse AOK.

Stuttgart - Für viele Berufstätige beginnt der Stress schon vor der eigentlichen Arbeit: Nervenaufreibende Wartezeiten im Stau, ein verpasster Bus oder eine überfüllte Straßenbahn machen den Weg zur Arbeit oft unerträglich. Dabei nehmen die Erwerbstätigen immer längere Anfahrtsstrecken in Kauf. Auch in Stuttgart geht die Zahl der Pendler nach oben: Pendelten im Jahr 2005 noch 205 285 Menschen täglich nach Stuttgart ein, waren es im Jahr 2014 schon 228 562. Auch die Zahl derer, die ihren Wohnort in Stuttgart haben und woanders arbeiten, hat zugenommen: 2005 pendelten 57 388 Menschen aus, 2014 waren es 78 136.

Arbeits- und Wohnort driften dabei immer weiter auseinander, wie auch eine aktuelle Auswertung des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung zeigt. 64 Prozent der in der von Forsa befragten Erwerbstätigen in Baden-Württemberg sind bis zu 30 Minuten lang unterwegs zum Arbeitsplatz. 25 Prozent brauchen zwischen 30 und 60 Minuten, und vier Prozent haben einen Arbeitsweg von über einer Stunde.

Dies geht an den Erwerbstätigen nicht spurlos vorüber: Eine Forsa-Umfrage im Auftrag der Krankenkasse AOK belegt, dass Berufspendler häufiger krank werden. Demnach berichten Befragte, die 30 Minuten und länger von zu Hause zur Arbeit brauchen, häufiger von einem Gefühl der Belastung durch das Pendeln, als Arbeiter mit kürzeren Wegen. Jeder Fünfte der von Forsa Befragten fühlt sich durch die langen Anfahrten in seinem Freizeitverhalten stark eingeschränkt. Es bleibt weniger Zeit für die Familie, für Sport oder Hobbies. Besonders in Ausnahmesituationen, wenn beispielsweise ein Kind krank wird, fällt es Pendlern schwer, alle Anforderungen zu bewältigen.

Berufspendler leiden unter typischen Stresssymptomen

Dadurch leiden Berufspendler unter typischen Stresssymptomen wie Nervosität, Herzrasen, Schweißausbrüchen oder auch Nacken- und Rückenbeschwerden. Auch die Anzahl der Fehlzeiten bei psychischen Erkrankungen nimmt mit der Länge des Anfahrtsweges laut AOK zu.

„Die Belastungen für die Gesundheit entstehen zum einen, weil Berufspendler auch nach der Arbeit viel sitzen müssen, statt Sport zu treiben“, bestätigt Jürgen Brenner-Hartmann, fachlicher Leiter der Verkehrspsychologie beim Tüv Süd, „zum anderen haben aber viele Berufspendler auch das Gefühl, in zwei Welten zu leben.“ Manche fühlen sich weder in der Familie noch im Job richtig angekommen.

Ob ein Berufspendler unter dem Anfahrtsweg leide, hänge auch davon ab, ob er dies freiwillig oder unter Zwang mache. „Wenn man die Anforderungen als ungerecht empfindet, erhöht sich der Stress“, sagt Brenner-Hartmann. Hat man dagegen eine Wahl, reist man mit einer positiveren Grundhaltung. Dass eine psychische Erkrankung allein durchs Berufspendeln ausgelöst wird, hält er für ausgeschlossen, Pendeln verstärke jedoch Ärger bei der Arbeit.

Während das Problem früher vor allem gut bezahlte und ausgesuchte Fachkräfte betraf, müssen heute Mitarbeiter aller Einkommensschichten mobil sein. Jeder Zweite hat laut des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung Erfahrung mit berufsbedingter Mobilität. „Bei Vollzeitbeschäftigung hält der Gesetzgeber eine Anfahrtszeit von einer Stunde und 15 Minuten pro Strecke für zumutbar“, sagt Alessandro També, Teamleiter bei der Agentur für Arbeit in Stuttgart. Grundsätzlich gelte dies auch für Geringqualifizierte mit niedrigem Lohn. Die Zumutbarkeit hänge auch von der individuellen Lebenssituation des Beschäftigen ab. „Man muss beispielsweise berücksichtigen, dass sich Eltern an Betreuungszeiten ihrer Kinder halten müssen und deshalb weniger flexibel sind.“ In Stuttgart und der Region sehe er aber kein Problem: „Die Wege in unserem Ballungsgebiet sind glücklicherweise kurz.“ Im näheren Umfeld von Stuttgart würden sich viele interessante Betriebe finden. „Die meisten nehmen einen weiteren Weg für einen besseren Job in Kauf“, sagt També. Außerdem beobachte er, dass auch Arbeitgeber flexibler werden, und den Beschäftigten erlauben, tageweise von Zuhause zu arbeiten. „In der Produktion ist ein Home Office natürlich nicht möglich.“

Einen Einfluss auf die Gesundheit hat außerdem die Wahl des Verkehrsmittels, mit dem die Pendler zur Arbeit kommen. So haben britische Wissenschaftler belegt, dass Bus- und Bahnfahrer niedrigere Körperfettwerte haben als Autofahrer, selbst im Vergleich mit Radfahrern schnitten sie gut ab. Pendeln kann also doch gesund sein.